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Truckspotting

Noch dürfen wir ja morgens nicht in der „Bar Italia“ sitzen, sondern müssen davor stehen. Und so gruppieren Bademeister Matthias, Trauma-Anne und ich uns mit Kaffeebechern in der Hand rund um den Stromkasten auf dem Bürgersteig vor der Bar, plaudern, schweigen und überwachen die vielbefahrene Kreuzung Mehringdamm/Kreuzbergstraße. Daraus ergab sich ein neues Hobby, „Truckspotting“.  Wir machen uns gegenseitig auf besonders schöne, weil schlicht beschriftete Lastwagen aufmerksam. Unser bisheriger Favorit ist ein Fahrzeug der Speditionsfirma HANSETRANS, nicht zuletzt auch deswegen, weil es mich an den lustigen Schüttelreim von Harry Rowohlt erinnert:

„Den Umzug plant die Transe Hans

Stets mit der Firma HANSETRANS.“

Gestern nun aber erregte ein leuchtend gelber Lastwagen des Umzugsunternehmens ITO erst unsere Aufmerksamkeit, dann auch Begeisterung. Schwarz auf gelb nämlich waren auf ihm die Orte verzeichnet, in denen die Firma offenbar Filialen unterhält. Die linke Spalte war noch eher unauffällig:

Bremen

Hamburg

Kaiserslautern

Frankfurt

Köln

München

Berlin

In der zweiten aber ging  es dann spektakulär weiter:

Rostock

Koblenz

El Paso

Washington

Wichita Falls

Alamogorda

Phoenix

Was uns begeisterte, war erstens die reine Vielzahl der Ortsnamen und zweitens die Mischung aus Weltstädten (Berlin, Washington), Provinzgemeinden (Kaiserslautern, Koblenz) und exotisch klingenden (El Paso, Wichita Falls, Phoenix) oder zumindest mir völlig unbekannten Destinationen (Alamagorda).  All das fügte sich zu einem fast lyrischen Namens-Zauber, der mich an Peter Handkes Gedicht „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968“ denken ließ:

WABRA

LEUPOLD      POPP

LUDWIG MÜLLER   WENAUER   BLANKENBURG

STAREK   STREHL   BRUNGS   HEINZ MÜLLER   VOLKERT

Spielbeginn:

15 Uhr

Vor allem über die Angabe des Spielbeginns muß und kann ich zuverlässig lachen.

Altes Gasthaus Love

An dieses Album der hier schon mehrfach gewürdigten Band „Erdmöbel“ mußte ich denken, als mir Freundin Nicole das folgende kostbare Dokument aus einem kleinen Ort in Brandenburg zukommen ließ:

Versehen mit dem Kommentar:

„Im Bestattungshaus Möse ist die Liebe unerschöpflich.“

Und wenn wir jetzt noch bedenken, daß „Erdmöbel“ angeblich ein DDR-Synonym für Sarg ist, schließt sich der Kreis aufs Schönste, da beißt die Maus keinen Faden ab.

Corona ist … (2)

…, wenn am Ostersonntagmittag der Biergarten zwar geschlossen hat, der Wirt aber trotzdem anwesend ist. Gemeinsam mit drei anderen mittelalten Männern sitzt er im Kreis, auf Stühlen, mit Abstand. Alle vier trinken aus großen Gläsern mit Bier darin. Genau in der Mitte des Stuhlkreises aber steht auf dem Boden eine Bluetooth-Box, aus der der Papst zu Ostern spricht, italienisch mit deutscher Übersetzung. Vier Männer trinken Bier im Freien und hören auf den Papst. Und das alles am Rande der Hasenheide zu Berlin, einen Steinwurf entfernt von der päpstlichen Nuntiatur.

Dich, Kanzi-Apfel,

kannte ich bislang nicht. Das hat sich neulich geändert, denn bei der jüngsten Berlinale – das war noch vor Corona, also kwasi v. C. – tratst Du erstmals als Sponsor in Erscheinung und fielst mir auf mit dem Slogan:

„Wir stillen Deine Lust auf Leben“.

Was ist das für ein Apfel, der ein Filmfestival zu finanzieren hilft, fragte ich mich. Und lernte auf Deiner Seite: daß Kanzi „nicht einfach irgendein Apfel“ ist, sondern ein „erfrischend frecher“ „Premium-“ und „Qualitätsapfel“ „mit Charakter“, „Klasse“ und „saftigem Biss“, dessen „luxuriöse Erscheinung“ „die Aufmerksamkeit sofort auf sich“ zieht und damit „ein Schritt“ ist  auf unser aller Reise, das „Leben voll auszukosten“.

Ich las also dieses unappetitiche Luxus- und Lebensfreude-Simulations-Gequatsche bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich feststellte, daß Du, Kanzi, Dein Werbeversprechen schon eingelöst hast. Meine Lust auf Leben war gründlich gestillt, geradezu im Keim erstickt. Merke: A Kanzi a day keeps the Lebenslust away.

Fast wie früher

Weißt du noch, wie wir uns küßten?

Damals, draußen, öffentlich.

Damals, weißt du, vor Corona

küßte ich dich und du mich.

 

Weißt du noch: wir so im Kino?

Viele Menschen, selber Raum.

Manche, die ihr Popcorn mampften,

nervten manchmal, aber kaum.

 

Weißt du noch: die volle U-Bahn?

Husten, Niesen, böser Blick.

Auch die Stadt war voller Leute,

jung und alt und arm und schick.

 

Weißt du noch, wie wir uns trafen?

Tranken bis zum Morgenrot.

In der Kneipe, vor Corona

und vor dem Kontaktverbot.

 

Weißt du noch: die Dunkelziffer?

War wie immer unbekannt.

Täglich neue Zahlen, Kurven.

Draußen lag ein leeres Land.

 

Weißt du noch, wie wir da standen?

Nur wir zwei auf dem Balkon.

Ja, dort standen wir und sangen,

sangen tapfer Ton um Ton.

 

Weißt du noch, wie dann allmählich

alles wieder möglich war?

Alles: Kneipe, Kino, Küsse.

Fast wie früher. Wunderbar.

Heul doch!

Ich mag das Wort „heulen“. Es hat so was unmittelbar Hemmungsloses, während der Vorgang des Weinens ja eher ein leiser, manchmal auch gehemmter, verdruckster ist. Möglicherweise heißt also das Gegenteil von „lachen“ eher „heulen“ als „weinen“.

Jedenfalls freute ich mich, als ich auch in dem eins weiter unten erwähnten Interview mit Reinhard Mey das Wort „heulen“ las.  Das  Zitat über die Sehnsucht des Sängers nach dem ewigen Leben schickte ich an Chef Christian. Der schrieb prompt zurück:

„Jetzt muß ich auch heulen. Und das am frühen Vormittag.“

Dazu aber konnte ich ihn nur beglückwünschen, denn, das wurde mir schlagartig klar:

„Heulen ist die beste Medizin.“