Zu viel Leid.
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Zweimal Freud in nochmal Wien
Ein ausgedehntes Latschen durch das frühlingshaft kühle Wien führte mich auch zum Freud-Haus in der berühmten Berggasse 19. Von einem Besuch des Museums nahm ich Abstand, als ich die lange Schlange der Pilger und Touristen sah – und ein Phänomen, das Freud so noch nicht kennen konnte, das mir aber viel Freude bereitete:
Junger Mann und junge Frau stehen vor dem Freud-Haus und fotografieren sich selbst mit Hilfe von Telefon und Selfie-Stick.
Ein Selfie vor dem Freud-Haus: sekundärer Pärchen-Narzissmus Hilfsausdruck.
*
Peinlicher Versprecher einer Dame in einem Wiener Salon um 1900
Und Sie sind wirklich der Herr Freud?
Ich glaub, mich fickt der Therapeut!
Pardon. Ich meinte: Sehr erfreut.
Jetz amoi ane. – Schöne Grüsse aus Wien
Wo ich schon mal wieder in Wien bin, dachte ich mir, und wo hier schon immer noch die „Wilde Maus“ im Kino läuft, dachte ich mir, geh ich doch einfach zum zweiten Mal rein, dachte ich mir.
Und siehe: Auf mich wirkte er noch besser als beim ersten Mal. Ich mußte mehr lachen. Und mich mehr freuen: an der Langsamkeit des Films und dem vorzüglichen Timing, an vielen Dialogen, an den Gesichtern von Josef Hader, Pia Hierzegger, Jörg Hartmann und Georg Friedrich.
Vor allem von letzterem kann ich gar nicht genug sehen. Keine Sekunde bezweifelt man, daß dieser Mann Schausteller im Prater sein könnte. Dabei ist er doch Schauspieler. Sieht aber nicht aus wie einer. Als Erich in der „Wilden Maus“ ist er ungebildet, aber schlau, rabiat, aber lieb. Georg Friedrichs Wienerisch, das verdammt leise werden kann, ist die reine Musik. Und er raucht sehr gut.
Das tut er auch im Fernsehen. Vor ein paar Jahren war er mal in die Talkshow „Willkommen Österreich“ eingeladen. Im Zuge dieses insgesamt eher einsilbigen Auftritts kam es aber doch zu zwei denkwürdigen Dialogen.
Denkwürdiger Dialog I
Moderator: Wieviel rauchst du, Georg?
Georg Friedrich (entzündet ein Streichholz): Jetz amoi ane.
Selten eine so schöne Verweigerung von langweilig Grundsätzlichem zugunsten des Augenblicks gehört.
Denkwürdiger Dialog II
Moderator: Am Theater, Georg, bist du relativ selten zu sehen.
Georg Friedrich: Ja. (Pause) Aber kommt drauf an, wie oft ma hingeht.
Ich weiß nicht, ob es das braucht, aber ich verlinke trotzdem amoi den kompletten Auftritt (ab Minute 42):
Die Last des Wissens
Freund Andreas war es, glaube ich, der mir mal diesen alten, Tai Chi praktizierenden Chinesen schenkte. Ich mag ihn sehr.
Zur Zeit steht er ganz oben auf meinem Bücherregal. (So weit oben – dies zur Entschuldigung -, daß dort nicht regelmäßig Staub gewischt wird.) Zwischen einem Literaturlexikon und einer Vladimir Nabokov-Ausgabe. Der alte Chinese tut so, als würde er die dicken Bücher stützen. In Wirklichkeit aber
ist das Lexikon viel zu schwer für ihn. Sobald das Regal stärkeren Erschütterungen ausgesetzt ist – etwa durch menschliche Turn- und Tai Chi-Übungen in der Nähe – besteht sogar die Gefahr,
daß der alte Chinese unter der Last des Wissens begraben wird.
Grundübel (5)
Zu wenig Liebe.
Frühlingsbeginn (draussen)
Erstmals im T-Shirt.
Auch die Frau an der Ampel.
Sie stillt im Gehen.
Was schön ist (7)
Da sitzt du im ICE und rast regungslos leise durch Westfalen, den Kopf auf die Hand gestützt, den Ellbogen auf den Fensterrahmen, schaust raus und merkst dann, daß du gar nicht rausschauen mußt, denn im Glas spiegelt sich zweifach, leicht versetzt, dein Ehering, und auf diesen beiden schmalen Projektionsflächen zieht von rechts nach links sehr zügig vorüber die Welt, auf der zu sein manchmal mehr als schön ist, die westfälische Welt im Miniaturformat, Bäume, Licht und Felder.
Frühlingsbeginn (drinnen)
Die ganze Wohnung riecht nach Hyazinthen.
Sie stehen auf dem Küchentisch ganz hinten.
Was von der Nacht übrig blieb
Ein Magen-Darm-Infekt führt nachts zu einem slapstickhaften Auftritt. Das Söhnchen kommt im Dunkeln zum Bett des Vaters gewankt und sagt:
„Mir ist schlecht.“
Der Vater antwortet:
„Dann lauf schnell ins Badezimmer.“
Das Söhnchen läuft los – und übergibt sich im Flur. Diese Szene wiederholt sich im Laufe der Nacht noch zwei weitere Male: immer eben jener Dialog, immer die exakt selbe Stelle im Flur.
So gut es die müdigkeitsbedingte Überforderung erlaubt, wischen Mutter und Vater jeweils anschließend auf, kratzen aus den Ritzen zwischen den Holzdielen.
Anderntags, mit etwas Abstand erfreuen sie sich der Komik des Geschehenen, der joy of repetition, die ja Kindern wesentlich zu eigen ist, ergänzt noch durch die Entdeckung eines bis dato übersehenen, sehr malerischen Motivs an besagter Stelle im Flur:
Kotzespritzer auf Lederschuh.
Grundübel (4)
Zu viel Lärm.