Tätowationen

Es gab mal eine Zeit, da waren nur Matrosen, Knackis und Vollprolls tätowiert. Und noch nicht, wie heute, nahezu jeder.

Als ich Ende der 80er Jahre meinen Zivildienst bei der Johanniter Unfallhilfe ableistete, fuhr ich gelegentlich gemeinsam mit einem hauptamtlichen Kollegen namens „der Schörk“ im Krankenwagen. Ich vermute, daß „Schörk“ sein Nachname war. Genau weiß ich es nicht. Für uns Zivildienstleistende jedenfalls hieß er nur „der Schörk“.

Der Schörk war ein unglaublich fetter, schwabbeliger Mann mit unansehnlicher Dauerwelle. Am rechten Handgelenk trug er eine Rolex, auf dem linken den Schriftzug „Uschi“. Das ist die erste Tätowierung, an die ich mich erinnern kann.

Einmal saß ich neben dem Schörk auf dem Beifahrersitz. Er hatte die Hände am Steuer, rechts Rolex, links „Uschi“. Im Radio lief eine Schnulze. Und plötzlich fing der Schörk, die Ausgeburt des Grobschlächtigen und Unsensiblen, fing der Schörk ganz vorsichtig und schüchtern an mitzusingen, mit einer eher hohen, beinah schönen Stimme sang der fette Schörk sehr zart:

„Mon Amour“.

Nicht viel später erlebte ich einen Auftritt von Helge Schneider. In einer seiner mäandernden Geschichten phantasierte er über die Tätowierung eines Mannes. Helge Schneider sagte „Tätowation“. Die Tätowierung des Mannes war – ganz anders als damals üblich – kein Anker, kein Herz, keine „Uschi“, sondern ein grotesk elaboriertes Kunstwerk. Ein Hochhaus mit 30 Stockwerken und unendlichen Details, die Helge Schneider unter unserem hysterischen Gelächter ausschmückte. Ich erinnere mich noch, daß aus einem Fenster in der 27. Etage ein Pferd rauskuckte.

Heute gibt es solch grotesk elaborierte Tätowierungen in echt. Kleinteilige Gemälde oder absurde Textmengen auf großer Fläche.

An einem warmen Frühlingstag stehe ich in der U-Bahn in der Nähe einer jungen Frau: kurze, blonde Haare, Kopfhörer, ein grünes Sommerkleid, das viel Haut frei läßt. Als sie vor mir aussteigt, sehe ich, daß die linke Seite ihres Rückens tätowiert ist: mit recht klein geschriebenem Text, in Strophenform, Schreibschrift, rechtsbündig. Ich pirsche mich heran und erkenne die ersten Zeilen:

„Meine Ruh ist hin,

Mein Herz ist schwer;

Ich finde sie nimmer

und nimmermehr.“

Es folgen auf dem unbekleideten Teil ihres Rückens noch zwei weitere Strophen aus „Gretchen am Spinnrad“, dann Kleid über unterem Rücken und Hintern, dann auf dem hinteren linken Oberschenkel die letzte Strophe:

„Und küssen ihn,

So wie ich wollt,

An seinen Küssen

Vergehen sollt!“

Das Gedicht aus „Faust I“ hat insgesamt zehn Strophen, vier davon sind sichtbar auf den entblößten Hautpartien. Ich bin mir nicht sicher, ob die übrigen sechs auf die bedeckten auf unterem Rücken und Hintern passen.

Möglicherweise haben die junge Frau oder auch der Tätowierer den Goethe-Text gekürzt. Ich weiß es nicht und werde es leider auch nie erfahren. Was ich aber weiß und hier nicht verschweigen darf: daß auf dem hinteren rechten Oberschenkel der bildungsbeflissenen Frau, also gleich gegenüber von Gretchen am Spinnrad, noch ein anderes Tatoo zu sehen war: eine süße, kleine Mickey Maus.

Als die junge Frau im grünen Sommerkleid entschwindet, freue ich mich über die perfekte Symbiose auf ihrer Haut aus

Goethe und Disney,

E und U,

alter und neuer Welt,

comme ci und comme ça,

Rolex und „Uschi“.

Ein Gedanke zu „Tätowationen“

  1. Mein Kopfkino spult gerade ab: die Anwendung hermeneutischer Methodik der im Verborgen liegenden Strophen im Dienste der Wissenschaft… schönes Fräulein darf ich’s wagen, eine Deutung ihr anzutragen?

    Da soll noch einer behaupten, Literatur sei drüsch!

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