Gedicht für Kurt Scheel

Kalter Abend im November

 

Es war ein kalter Abend im November.

Ich lief leicht fröstelnd durch Charlottenburg

und mußte eine Stunde überbrücken.

 

So suchte ich das Warme und ich fand es

in einem angesagten Restaurant.

Bestellte Hühnersuppe,

bestellte Ingwertee

bei einer furchteinflößend schönen Kellnerin.

 

Die furchteinflößend schöne Kellnerin,

sie brachte Ingwertee und Hühnersuppe,

in der ein hartgekochtes Ei schwamm,

geteilt in zwei Hälften.

Es schmeckte sehr gut.

 

Ich aß Hühnersuppe und trank Ingwertee

und schaute

der furchteinflößend schönen Kellnerin

bei ihrer Arbeit zu.

 

Von der Kantstraße zur Bleibtreu.

Dort unter der Brücke

lag im Dunkeln

ein Mann im Schlafsack,

bäuchlings,

aufgestützt,

vor sich ein Buch.

Er las im Schein einer Taschenlampe.

 

Ich ließ ihn links liegen.

Dann kam ich zum Kino.

Der Mann,

mit dem ich verabredet war,

stand schon da.

Er schenkte mir ein Buch, das er doppelt hatte:

Gedichte von William Carlos Williams.

Der Umschlag leuchtete orange.

Wir setzten uns rein, der Film begann.

Es ging um einen Busfahrer, der Bus fährt

in Paterson, New Jersey.

Und der Gedichte schreibt

in Paterson, New Jersey.

 

Morgens geht er zur Arbeit,

zu einem großen Depot,

und holt seinen Bus ab.

Er lenkt ihn aus der Garage

und fährt auf die Straßen

von Paterson, New Jersey.

Es tut gut, ihm dabei zuzusehn.

 

Seine Frau backt immerzu Kuchen.

Und er geht abends immer mit dem Hund.

Leint ihn an,

trinkt ein Bier

in einer Bar,

geht zurück,

zieht sich aus,

legt sich ins Bett

und schmiegt sich an

seine wirklich ziemlich liebenswerte Frau.

 

Eines Tages, in diesem Film

von, Ihr wißt schon, Jim Jarmusch,

zerfetzt der Hund das Notizbuch

und alle Gedichte

des Busfahrers.

Sie sind jetzt unlesbar.

 

Der Busfahrer ist traurig.

Er geht spazieren,

ohne den Hund,

und setzt sich auf eine Bank.

 

Dann kommt ein Mann aus Japan.

Der Mann aus Japan spricht den Busfahrer an.

Die beiden reden über William Carlos Williams.

 

Dann fragt der Mann aus Japan:

Sind sie auch ein Dichter aus Patelson, New Jelsey?

Und der Busfahrer sagt

nach kurzer Bedenkzeit:

Nein, ich bin nur der Busfahrer.

 

Der Film war aus.

Wir verließen das Kino,

gingen auf die andere Straßenseite

in eine Kneipe

und tranken noch Bier.

 

Der Mann, mit dem ich Bier trank, sagte:

Das war doch Ihr Film.

Sie sind doch auch Dichter.

Er sagte das mit einem Lächeln.

Ich lächelte auch

und erwiderte dann,

nach kurzer Bedenkzeit:

Nein, ich bin nur der Busfahrer.

 

Wir trennten uns

und ich ging zurück

unter der Brücke

an der Bleibtreu entlang.

 

Der Mann mit der Taschenlampe

war eingeschlafen.

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