Assoziationskettensägenmassaker

Besonders freudvoll: bei Nieselregen zu laufen. Die Luft ist gut. Weniger Menschen sind unterwegs. Schöne Pfützen bilden sich, die es zu umkurven oder überspringen gilt.

Schon zum zweiten Mal kommt mir in der Hasenheide ein Läufer entgegen, der ein rotes T-Shirt mit Aufdruck trägt:

„Identität?

Ein Flatus im Universum.“

Dieser Text löst in meinem Hirn aus, was Freund Andreas und ich früher, wenn die Gedanken im gemeinsamen Gespräch windeseilig und schneller, als wir sprechen konnten, vom Hölzchen aufs Stöckchen sprangen, „Assoziationskettensägenmassaker“ nannten.

Jedenfalls ließ mich der Aufdruck an das Kieser-Trainings-Studio in Berlin-Charlottenburg denken, in dem ich mal für eine Weile ein- und ausging. Dort verkehrte gehobenes Bildungsbürgertum mit aua Rücken, das man an T-Shirts wie

„Theater? Muss sein!“

erkennen konnte. Denken andererseits und nahezu gleichzeitig an John Irvings Roman „Das Hotel New Hampshire“, in dem es einen Hund gibt, der an chronischer Flatulenz leidet. Als ich den Roman irgendwann in den achtziger Jahren DES VERGANGENEN JAHRHUNDERTS las, lernte ich dieses Wort: „Flatulenz“.

Der Hund heißt in der deutschen Übersetzung

„Kummer“.

Nach einem Flugzeugabsturz schwimmt das tote Tier auf der Wasseroberfläche des Atlantiks. Das entsprechende Roman-Kapitel – auch das fiel mir beim Laufen nun wieder ein – trägt den Titel

„Kummer schwimmt oben“.

Diese Kapitel-Überschrift mochte ich immer sehr, was auch damit zu tun hat, daß mir das Wort „Kummer“ so gefällt, ebenso wie die verwandten:

kümmern, bekümmert, kummervoll, kümmerlich, Kümmerer, Kummerkasten, Kümmerling

Auch den Namen des Journalisten Tom Kummer fand ich immer eindrucksvoll und fast beneidenswert.

Die Vorliebe für die Wörter der Familie Kummer scheint Eckhard Henscheid zu teilen. Seinen letzten, „gotteskundlichen“ Roman nannte er

„Aus der Kümmerniß“.

Als Henscheid uns neulich in Berlin beehrte, schenkte er mir ein Exemplar dieses Buches. Das ich aber natürlich schon besaß. Also trug der Autor mir auf, es anderweitig weiterzuverschenken. Eine knifflige Aufgabe, denn das Werk ist sehr speziell und nicht ganz leicht zu lesen. Ich fragte also bei Thomas Kapielski an, mir bekannt als ein Freund schwieriger Bücher. Der aber beschied mich wie folgt:

„Freut mich, daß Sie da an mich denken!

Allein, ich habe die Kümmerniß. Da mir Henscheid das Buch abermals schickte, habe ich es an meinen Lieblingsoberatheisten weitergereicht.

Alles gesättigt also –

Mit Dank und Gruß

Ihr TK“

Da blieb als Empfänger nur noch mein Onkel Rolf. Der war es ja überhaupt erst gewesen, der mich in den achtziger Jahren DES VERGANGENEN JAHRHUNDERTS auf Henscheid, die ´Titanic´ und alles gestoßen hatte. Nun hat er den überschüssigen Roman also abgekriegt. Mal gepannt, ob er ihn lesen kann.

Das alles und noch viel mehr rioreiserte und rauschte mir durchs Hirn, als ich sonntags im Nieselregen durch die Hasenheide lief.

P.S. Zuhause schaute ich nach im Roman und stellt fest, daß das zitierte Kapitel – anders als ich jahrelang dachte – nicht

„Kummer schwimmt oben“

sondern

„Kummer obenauf“

heißt.

Die von mir erinnerte Version finde ich eigentlich schöner.

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