Kartoffel vs. Leberwurst

Als Ror Wolf im April 1977 nach Berlin reiste, notierte er in sein Tagebuch:

„Diese Stadt ist noch provinzieller großschnäuziger trostloser als früher. Ein durchgehend geöffnetes Krematorium. Eine breitgedrückte kalte große Kartoffel.“ 

Ich mag solche maß- und letztlich haltlosen Städte-Beleidigungen à la Thomas Bernhard. Und diese hier finde ich auch sehr komisch. Sie erinnert mich an einen Zweizeiler von Helge Schneider, den ich vermutlich mal bei einem seiner Auftritte in Berlin aufgeschnappt habe:

„Berlin Berlin, du schöne Stadt,

halb Leberwurst, halb Wien.“

Obwohl die Leberwurst es nahelegt, handelt es sich hier weniger um eine Beleidigung als um eine ziemlich zutreffende metaphorische Beschreibung.

Denn Berlin hat eine sehr repräsentative, fast prachtvolle Seite, also eine wienerische, nur nicht ganz so krass prachtvoll. Und eben eine prollig leberwurst-artige.

Leberwurst und Wien fügen sich je hälftig zu einer im Großen und Ganzen vielleicht nicht liebens-, aber doch lebenswerten Stadt, die von oben möglicherweise wie eine breitgedrückte große Kartoffel aussieht.

Wollen wir es so zusammenfassen und stehenlassen?

Ja, wollen wir.

Zwischen Frisch und Haslam

Wenn Barmann Alex ausnahmsweise mal frei hat, dann hat er auch Zeit, seine auf das Wesentliche reduzierte Bibliothek zu sortieren und einen für mich wichtigen Einblick zu dokumentieren:Wolf Haas wohnt in fast unmittelbarer Nachbarschaft, der Weg in Nachtlubs ist nicht weit und auf dem Umschlag meines Miniaturromans befindet sich – wie es sich für das Exemplar eines Baristas gehört – ein feiner Kaffeefleck. Gefällt mir!

Zementmischer (20)

Das Töchterchen, das recht eigentlich inzwischen eine Tochter ist, zumal seit seinem bzw. ihrem 16. Geburtstag vor wenigen Tagen, schickt mir aus Nizza Fotos, die die vermutlich wildromantischste Baustelle der Welt zeigen. Dieses hier von oben:Und dieses von der Seite:Und im dazugehörigen Kurzvideo hört und sieht man den Zementmischer sogar bei der Arbeit. N´est-ce pas fantastique?!:

Auf der Suche nach Pia

Ich besitze ein Dokument von derzeit 1098 Seiten, in dem ich Beobachtungen, Begebenheiten und Einfälle notiere, die ich für bemerkenswert halte. Freudvoll ist es, gelegentlich darin zu stöbern und dann zu staunen, was man in den letzten Jahren so alles beobachtet, erlebt und gedacht hat – und oft gleich wieder vergessen. Als sehr wertvoll hat sich auch schon die „Such“-Funktion dieser Datei erwiesen. Vorgestern zum Beispiel suchte ich einen Eintrag zu einer Bekannten namens Pia. Auf dem Weg zur richtigen Pia-Notiz zeigte mir der Rechner viele interessante Fundstücke an:

Pianist

Olympypiastadion

die Schauspielerin Pia Hierzegger, die ich aber nicht suchte

das von einem Bekannten in einer Email verwendete Adjektiv

posttrumpianisch

schließlich die italienischen Wörter

piacere

und

piazza

Dann war ich am Ziel: dem richtigen Eintrag zur richtigen Pia.

Schwer zu besetzen

Falls wer, warum auch immer, auf die Idee kommt, mein Leben zu verfilmen: Bitte beim Casting unbedingt darauf achten, daß der Hauptdarsteller auf Kommando 17 bis 24 mal hinter einander niesen kann – so wie ich es morgens nach dem Zähneputzen häufig tue. Nicht daß ich mir groß was drauf einbilde. Vermutlich aber ist das nicht ganz leicht zu spielen.

Ach, die Achtsamkeit!

Mit besten Vorsätzen kauft man sich ein Buch über Achtsamkeits-Yoga, liest auch ein wenig darin herum, macht zweidrei Mal einige der Übungen – und verliert das eigentlich als lebensverändernd gedachte Projekt aus den Augen. Das Buch liegt noch ein Weilchen rum, nervt dann aber, weil es daran erinnert, daß man seit seinem Kauf weder beweglicher noch achtsamer geworden ist. Was tun? Ins Altpapier wäre allzu brutal. Also legt man es auf die Straße in der sehr vagen Hoffnung, daß jemand auf der Suche nach Beweglich-und Achtsamkeit vorbeikommt, es aufhebt – und seinerseits sein Leben zu ändern versucht.  (Eher achtlos entsorgtes Buch über Achtsamkeit, Troisdorf 2024)

Sober October

Mit Barmann Alex sprach ich über vorübergehende Abstinenzen und zwischenzeitliche Inkonsequenzen. Ob zum Beispiel der Plan, im Oktober auf Alkohol zu verzichten, mit einem Besuch des Oktoberfestes vereinbar sei. Um das Thema noch grundsätzlicher zu fassen, führte ich einen Song aus den vierziger Jahren an, den Joe Jackson später mal gecovert hat:

„What´s the Use of Getting Sober (When You Gonna get Drunk Again)“

Gute Frage. Die mich noch dazu auf die, wie ich dachte, originelle Idee brachte, einen

„Sober October“

auszurufen.  Ein kontrollierender Blick ins Netz erwies sich wie so oft als ernüchternd. Auf den „Sober October“ waren vor und außer mir schon ganz viele andere Menschen gekommen.

So ernüchternd, daß ich im Oktober eigentlich gar nicht mehr Nichttrinken kann und muß.

Zwei Schmetterlinge

Erst starb er

nach 70 Jahren Liebe.

Dann starb sie:

Er wartet schon auf mich.

 

Ist das nicht ein bißchen ktischig

mit den 70 Jahren Liebe?

Ja, mag sein,

im Wesentlichen aber stimmt es.

 

Bei der Messe für ihn

sprach sie noch die Lesung.

Bei der Messe für sie

flog in der Kirche  erst ein, dann noch ein zweiter Schmetterling.

 

Ist das nicht ein bißchen kitschig

mit den beiden Schmetterlingen?

Ja, mag sein,

doch ganzgenauso ists gewesen.

 

Das Leben ist schon manchmal

überirdisch

schmerzhaft

schön.

Das war es für dieses Jahrhundert

Der erstaunliche und erstaunlicherweise inzwischen schon 70 Jahre alte Joe Jackson ist gerade mit einem neuen Programm  auf Tour. Die erste Hälfte bestreitet er allein am Klavier, beginnt mit zwei Stücken aus der jüngeren Vergangenheit, die er absagt, um dann nach neun Konzertminuten so fortzufahren:

„That´s gonna be it for the 21st century. It´s not my favourite century out the ones that I´ve known so far.“

So witzig, knapp und kunstvoll können Ansagen sein. Als Mann von 70 Jahren hat er halt schon schönere Zeiten erlebt als die knapp 24 Jahre des laufenden Jahrhunderts. Lakonie statt Larmoyanz. Und dann nimmt er uns schnurstracks mit  zurück in die 90er Jahre.

Toll auch das anmaßende Understatement, das sich in den zwei Wörtchen „so far“ versteckt: Ich rede hier von den Jahrhunderten, die ich bislang kennengelernt habe.

Mein All