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Er konnte auch anders. – Noch eine Erinnerung an Kurt Scheel

Es war in der „Kurbel“. Die Herren Scheel, Rutschky, Brück saßen, wie immer im Kino, mittig weit vorn.  Der Film lief schon ein Weilchen, da drehte sich Scheel zu seinem Hintermann um und sagte mit entschiedener Höflichkeit:

„Könnten Sie bitte aufhören, mir ihren Fuß permanent in den Rücken zu rammen.“

Ein paar Minuten lang passierte nichts. Dann stand Scheel, für mich unvermittelt, auf, und bahnte sich seinen Weg durch unsere Reihe. Irritiert schauten wir ihm nach und sahen, wie er hinter seinem Hintermann Platz nahm und mehrfach schnell und hart mit dem Fuß gegen dessen Lehne trat. Dann stand er wieder auf und kam zu uns zurück.

Den ganzen Film über hatte ich Sorge, was geschehen würde, wenn wir später am Ausgang  auf Scheels Feind träfen.  Doch der verdrückte sich, wie sich herausstellte, sang und klanglos.

Er hatte vermutlich gespürt, daß aus einem eigentlich sehr zivilen und dezenten Herrn durch anhaltende Peinigung ein zu allem bereiter, bedingungslos entschlossener, John Wayne-hafter Kerl geworden war, mit dem man sich besser nicht anlegt. Denn er konnte auch anders, wenn man ihm krumm kam.

Wenn Bücher nach Hause kommen (2)

Weil Schwester Sabine mit dem Gedanken spielt, sich in der Toskana häuslich niederzulassen, schenkte ich ihr einen dicken Band mit Robert Gernhardts Aufzeichnungen aus Montaio und Umgebung. Sie nahm das Buch auch gleich mit auf ihren nächsten Erkundungs-Trip und brachte es so kwasi nach Hause. Hier liegt es, wo es hingehört:

Wenn Bücher nach Hause kommen

Wie weiter unten schon erwähnt, reiste ich im Frühjahr nach Bergamo und las dort zum zweiten Mal Eckhard Henscheids Roman „Dolce Madonna Bionda“, der nämlich hauptsächlich ebenda spielt.  So fügte es sich manchmal, daß ich vor einer Bar saß und las und die Hauptfigur Bernd Hammer schritt im Buch genau über jenen Platz, auf den ich gerade schaute.

Ein schöner Neben-Effekt der Lektüre eines Romans, den man sehr ausgeruht und mit reichlich Koffein intus lesen sollte, um ihn in voller Pracht goutieren zu können.  Ich schrieb Kurt Scheel statt einer Postkarte  ein paar Reise- und Lese-Eindrücke per Email und er antwortete wie immer mit wertvollen Worten, die er mir, hoffe ich, hier wiederzugeben erlauben würde, wenn er es denn noch könnte:

Lieber Herr Brück,

vielen Dank für den Postkartenersatz. Ich habe den Bergamo-Roman zum dritten Mal vor etwa fünf Jahren gelesen und so bei mir gedacht, dass dies vielleicht doch das allergrößte Werk unseres verehrten Meisters sei, so komisch und weh und wahr, dass es eigentlich zwischen Himmel und Erde, Leben und Tod entstanden sein muss; jedenfalls ist es nicht mehr ganz von dieser Welt.

Herzlich

Ihr Kurt Scheel

Am allerschönsten – Noch eine Erinnerung an Kurt Scheel

Ich war mit den Herren Scheel und Rutschky im Café des Literaturhauses verabredet.  Warum dort, weiß ich nicht mehr. Wir wollten wohl noch irgendwo hin.  Bei unseren Verabredungen gab es eine ziemlich zuverlässige Reihenfolge des Eintreffens: erst Scheel, dann Brück, schließlich Rutschky.

Diesmal aber war ich zuerst da. Als Herr Scheel erschien und mich begrüßte, fragte ich ihn:

„Haben Sie abgenommen?“

Er leuchtete vor Freude. Später stieß  Herr Rutschky dazu und sofort sprudelte es aus Scheel heraus:

„Michael, Herr Brück hat mich eben gefragt, ob ich abgenommen habe. Das war noch schöner, als wenn er mir  gesagt hätte,  daß ihm mein letztes Buch ausgezeichnet gefallen habe.“

Wir kamen dann zu dem Schluß, daß es am allerschönsten gewesen wäre, wenn ich gesagt hätte:

„Herr Scheel, kann es sein, daß Sie seit Erscheinen ihres letzten, übrigens sehr guten Buches abgenommen haben?“

Spencer Tracy war klein. Über Kurt Scheel

Vor einer Woche endete das Leben von Kurt Scheel.

Meine Verehrung für ihn reicht mehr als 20 Jahre zurück. Freund Martin machte mich auf „Kurt Scheels Lichtspiele“ aufmerksam, Texte, die er in der ´taz´ über Filme und Kino veröffentlichte: klug, unverquast, handfest, witzig, albern, mit kindlicher Freude an fast allen Spielarten des Kinos.  Diese und andere Aufsätze erschienen dann als Buch: „Ich und John Wayne“ – einer der schönsten und treffendsten Titel aller Zeiten, denn hier sprach ein bescheidener Mann in aller Unbescheidenheit über sich und das Kino und tat nicht so, als könne man da irgendwas objektivieren. Es ging um Liebe.

Ich nahm Kontakt mit ihm auf und bat ihn,  fürs Radio einen Text zum 100. Geburtstag von Spencer Tracy zu schreiben. Er sagte zu. Der Beitrag begann mit den Worten

„Spencer Tracy war klein.“

Dieser Satz in seiner schlichten und deshalb schönen Konkretheit war es, der mich vollends für Kurt Scheel einnahm, ja entflammte.

Ich konnte ihn als regelmäßigen Mitarbeiter gewinnen und so  kam es, daß Kurt Scheel den Hörern vier Jahre lang jeden Freitag einen Spielfilm empfahl, der am Wochenende im Fernsehen zu sehen war. Das Spektrum seiner Begeisterungsfähigkeit reichte von „Rambo“ und „E.T.“ bis zu Woody Allen und den Quasselfilmen von Eric Rohmer.

In dieser Zeit lernten wir uns auch privat kennen. Kurt Scheel lud mich ein. Und das ging so: In meinem Briefkasten landete  ein Umschlag, darin die Eintrittskarte für ein Spiel der Hertha. Ich fand mich also Samstag  nachmittags im Olympiastadion ein und traf auf Kurt Scheel und einige seiner Freundinnen und Bekannten:  Igor Arslan und Ulrike Richter, Wolfgang Herrndorf und Kathrin Passig. Wir schauten das Spiel, das meist nicht so dolle war, weil Hertha, danach orderte Scheel ein Taxi, das uns zu einem Restaurant brachte. Wir aßen und gingen anschließend zu ihm nach Hause,  wo er Getränke reichte und irgendwann noch einen Film einlegte. Großzügiger ging es nicht. Ich fühlte mich geehrt.

Nach vier Jahren  war es Kurt Scheel, der mir wie en passant eröffnete, er wolle seine regelmäßige Mitarbeit fürs Radio nun beenden. Über Filme zu sprechen und dafür auch noch Geld zu kriegen, das sei für ihn gewesen, als würde er fürs Vögeln bezahlt. Jetzt aber habe er das Gefühl, so ziemlich alle sehr guten Filme vorgestellt zu haben, es reiche wohl.

Wir blieben uns verbunden und begannen, uns gelegentlich gemeinsam mit seinem Freund Michael Rutschky zu Kino-Besuchen zu verabreden. Das ging so über Jahre.  Im Januar noch waren wir im „International“ und schauten den Churchill-Film mit Gary Oldman, anschließend wie immer auf zweidrei Biere ins „Xantener Eck“.  Ein letztes Mal zu dritt – Herr Rutschky war schon sehr krank.

Ende Juni bestritten Kurt Scheel und ich eine Lesung in der „Bar Italia“. Ich mochte seine funkensprühenden, zur sprachlichen Ausgelassenheit neigenden und trotzdem leicht melancholisch grundierten Texte über morgendliche Fahrrad-Ausflüge  in den Grunewald sehr und  hatte ihn eingeladen, ein paar davon vorzulesen.

Es war ein heißer Tag, Unter den Augen John Waynes auf einem großen Filmstill plauderten wir übers Schwitzen, den Lobpreis der Schöpfung in seinen Texten und Sophia Loren. Nach der Lesung tranken wir noch ein Glas. Dann verabschiedete er sich von mir: „Wir gehen mal wieder ins Kino.“

Am nächsten Tag erhielt ich eine Email.  Kurt Scheel hatte unseren Auftritt ruckzuck literarisch verarbeitet und fragte, ob die Veröffentlichung so für mich in Ordnung sei. Ich las, freute mich und gab meinen Segen.

Brief an Kohlhammer

Einen Monat später endete das Leben dieses klugen, wissenden, witzigen, großzügigen, liebenswürdigen Mannes.

Es ist unbegreiflich. Er ist unerreichbar.