Neulich in Kreuzberg (7)

Es war eher kalt,

der Mann nicht mehr jung,

sein Buch nicht mehr neu,

dafür ganz schön dick.

Und so hockte der nicht mehr junge Mann bei uns im Hof, saß fast auf den Fersen, lehnte mit dem Rücken an der Hauswand, las in dem nicht mehr neuen, dafür ganz schön dicken Buch und ließ sich von uns, die wir ihn passierten und dachten, ein Bild wie von Spitzweg, nicht stören.

Was Friseure können, können nur Friseure.

Zu Ehren eines ehrenwerten Berufsstandes, der Friseure nämlich, die kein Internetz ersetzen kann und die morgen ihre Salons wieder öffnen dürfen, möchte ich an einen Herrn erinnern, der in meinem Leben am Rhein eine kleine, aber nicht unwichtige Rolle spielte. In Wirklichkeit hieß er etwas anders als in der folgenden Geschichte. Den fiktiven Namen habe ich mir bei meinem Lieblings-Märchen der Brüder Grimm ausgeliehen:

Der Herr Korbes

In der alten Zeit hatte ich einen Friseur, der hieß Herr Korbes. Er ging seinem Handwerk in einem Salon nach, in dem Damen und Herren die Haare geschnitten und gemacht wurden. Bei der Arbeit trug er einen gestärkten, weißen, kurzärmligen Kittel, in dessen linker Brusttasche sich ein Kamm und eine Schere befanden.

Wenn ich mich auf einen der Wartestühle setzte, grüßte mich der Herr Korbes mit einem Nicken über den Kopf des Kunden hinweg, um den er sich gerade kümmerte. Sobald er fertig war, bat er mich zu seinem Arbeitsplatz.

Der Herr Korbes wußte, was er zu tun hatte. Er tat es mit großer Sorgfalt, aber ohne viel Worte zu machen. Seine Miene war schwer zu deuten: stillvergnügt oder vielleicht eine Spur mißmutig?

Auf alles war Verlaß beim Herrn Korbes. Immer, immer wenn er ein gutes Weilchen gekämmt und geschnitten hatte, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns:

„So. Jetzt haben wir wieder ein bißchen Luft auf dem Kopf, nicht wahr?“

Und ich bestätigte jedes Mal, jedes Mal präzise im selben Wortlaut:

„Genau.“

Schließlich schrieb der Herr Korbes eigenhändig die Rechnung. Der notierte Betrag war nicht zu hoch und nicht zu niedrig. Er entsprach exakt der erbrachten Leistung. Der Herr Korbes half mir wieder in die Jacke und verabschiedete mich.

So ging das jahraus, jahrein. Der Herr Korbes trat dann kürzer und arbeitete nurmehr donnerstags. Ich hielt ihm die Treue, bis ich eines traurigen Tages zum Städtele hinaus mußte. Einen wie ihn habe ich nicht wieder gefunden.

Seltene Momente (2)

Das hier schrieb ich hier vor mehr als sechs Jahren:

„Das An- und Abschwellen der Kleingeld-Menge in einem Portemonnaie und die sehr seltenen Momente, in denen sich kein einziger Cent mehr im Münzfach befindet, allenfalls noch der Chip für die Einkaufswagen: Wie oft kommen sie vor?

In meinem Fall vielleicht ein- oder zweimal im Jahr. Und das, obwohl ich mich stets bemühe, die Anzahl an Münzen in meinem Portemonnaie gering zu halten.

Wie wohl mag es anderen Menschen ergehen? Kommen sie häufiger als ich in den Genuß einer von Münzen völlig unbeschwerten Börse? Oder empfinden sie diesen Zustand vielleicht gar nicht als erstrebenswert? Unterscheiden sich Frauen und Männer in ihrem Kleingeld-Verhalten? Wer weiß eine Antwort?“

Immerhin habe ich jetzt eine Antwort auf die Frage, wie oft diese sehr seltenen Momente vorkommen: vermutlich noch seltener als angenommen. Als ich nämlich gestern den allerletzten Cent zum Bezahlen einer Laugenstange auf die Bäckerstheke legte, fiel mir auf, daß mein Münzfach schon extrem lange nicht mehr komplett leer gewesen ist. Vielleicht sogar seit diesem Eintrag vor gut sechs Jahren. Das würde bedeuten, daß es sich bei den sehr seltenen in Wirklichkeit um äußerst seltene Momente handelt.

Meine Tage mit Moses

Vor ein paar Monaten war ich nach Hamburg eingeladen, zu einer Lesung in der „Patriotischen Gesellschaft“. Klingt heute vielleicht verdächtig, ist aber eine altehrwürdige Einrichtung.

Ich fuhr mit dem Zug und hörte unterwegs mittels Ipod Musik im Zufalls-Modus. Und der Zufall wollte es, daß schon als zweites oder drittes Stück

„Zieh dein Hemd aus, Moses“

lief. Ein großartiges Lied der Hamburger Band „Kid Kopphausen“ mit maritimem Thema. Ich freue mich, daß mein Ipod weiß, wohin ich fahre.

Auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel unterquerte ich eine Brücke mit einem Graffito, das ich, wie mir dann wieder einfiel, schon von früheren Besuchen hier kannte:

Am Tag nach der Lesung, zu der ausschließlich warmherzige, aufgeschlossene Hamburgerinnen und Hamburger erschienen waren, kaufte ich seemännische Souvenirs für die Familie: einen Anker als Schlüsselanhänger für die Tochter, im Gedenken an Freddy Quinn eine Mundharmonika für den Jungen und für die Frau einen Beutel mit Seemannsknotenmuster, der sich, wie ich beim genaueren Hinschauen feststellte,

„Moses Shopper“

nennt. Auf dem Nachhauseweg durch Kreuzberg dachte ich über diese drei Zufälle nach, passierte das Yorck-Kino und sah im Schaukasten ein Plakat für den Film

„Milla meets Moses“.

Haut mich, aber so wars. Wars ein alttestamentarischer Gott, der mir ein Zeichen senden wollte? Sagt Ihr es mir?

„Sonst war nichts“ in der Zeitung (2)

Ein Hoch auf die deutsche Zeitungs-Landschaft! Es gibt hier offenbar (immer noch) so viele Zeitungen, daß ich sie nicht alle namentlich kenne, „Die Rheinpfalz“ zum Beispiel war mir bis dato gänzlich unbekannt. Seitdem aber der mir nicht gänzlich unbekannte Peter Claus in diesem ehrenwerten Blatt vor einer Woche eine feine Kritik zu meinem kleinen Roman veröffentlicht hat, bin ich drauf und dran, die „Rheinpfalz“ zu einer meiner Lieblings-Zeitungen zu erkiesen.  Doch lest selbst:

„Sonst war nichts“ in der Rheinpfalz

Kitsch as Kitsch can

In der Kreuzberger Hornstraße gibt es seit noch nicht allzu langer Zeit eine Wellness-Praxis. Sie heißt

„Honigseele“.

Als ich diesen Namen zum ersten Mal las, hätte ich mich fast übergeben angesichts von Übersüße gepaart mit Innerlichkeitsirrsinn. Ein bißchen lachen mußte ich aber auch.  Und fühlte mich ermutigt, den Rest des Tages die Honigseele baumeln zu lassen.

Wolkenkuckucksheim

Neulich morgens stand ich vorm Haus und wartete auf meinen Sohn, formerly known as „Söhnchen“, um mit ihm gemeinsam laufen zu gehen. Ich stand, wartete und hatte nichts weiter zu tun, als in den Himmel zu schauen, der gerade aufblaute, und den Wolken beim Ziehen zuzusehen.  Was für ein seltener Luxus, sich mal eine  Minute nur den Wolken zu widmen. Fiel mir nicht leicht, aber: gefiel mir. Während des Schauens mußte ich an das Wort

„Wolkenkuckucksheim“

denken: Was für ein merkwürdiges Wort eigentlich. Wer sich das wohl ausgedacht hat? Was für eine spektakuläre Metapher.

Der Sohn kam runter, natürlich zu dünn angezogen, wir gingen laufen, er schlurfte ostentativ lustlos neben mir her, um mich aber später beim Schlußspurt in der Hornstraße lässig hinter zu sich zu lassen und naß zu machen mit seinen pupertär spannenlangen Beinen.

Nachmittags schaute ich nach bei Wikipedia und fand Interessantes heraus: daß es sich beim dem Wort

„Wolkenkuckucksheim“

um die Lehnübersetzung eines Begriffs aus Aristophanes´ Komödie „Die Vögel“ handelt, daß die  Übersetzung  von Arthur Schopenhauer stammt, der das Wort bereits 1813 in seiner Schrift „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ verwendete, während andere Übersetzer die Entsprechungen

„Wolkenkuckucksburg“

und

„Kuckuckswolkenhof“

wählten, daß Karl Kraus später eine modernere Version von „Die Vögel“ mit dem Titel „Wolkenkuckucksheim“ schrieb und daß der Begriff in der Popkultur einen wiederkehrenden Topos bezeichet, der „eine diegetische Welt voller Merkwürdigkeiten und exzentrischer Charaktere“ beschreibt.  Was das nun wieder bedeutet, das herauszufinden reichte meine Kraft nicht.

Dafür aber hier noch ein Gedicht, in dem ich vor ein paar Jahren mal das Wolkenkuckuck-Motiv untergebracht habe:

 

Ohne mich

 

Einfach aus dem Fenster kucken.

Heute kann mich nichts mehr jucken.

Still den Augenblick verwalten.

Alles nur für mich behalten.

Nicht mehr raus und nicht mehr unter

Leute, werkelt bitte munter

 

ohne mich. Ich habe Zeit.

Genieße meine Wenigkeit.

Genieße meine Ewigkeit.

Ohne mich. Ich habe Zeit.

 

Zeit, um in die Luft zu starren.

Reglos sitzend zu verharren.

Zeit, um Wolken zu begleiten.

Um nach Kuckucksheim zu reiten.

Heute kann mich nichts mehr jucken.

Einfach aus dem Fenster kucken.

„Sonst war nichts“ im Radio (2)

Katrin Schumacher ist eine Frau mit besonders schöner Stimme. Schon mal gehört? Geht ganz einfach, denn sie arbeitet fürs Radio. Bei MDR Kultur moderiert sie die Sendung „Unter Büchern“. Vor ein paar Tagen hat sie darin meinen Miniatur-Roman vorstellen lassen.  Hier könnt Ihr beides hören, schöne Stimme und Rezension:

MDR Kultur über „Sonst war nichts“

Und hier noch die  ganze Sendung – mit Foto zur schönen Stimme:

MDR Kultur, „Unter Büchern“, am 6. Januar 2021

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