Wien wort auf mi

Zur Einstimmung auf meine nächste kleine Reise nach Wien höre ich im Moment fast täglich das Lied „Wien wort auf di“ von Granada. Es handelt sich um eine sehr eigene, sehr wienerische  Coverversion von Billy Joels „Vienna“. Ich mag den Dialekt, ich mag die exaltierte Art zu singen, ich mag das Akkordeon und ich mag Wien.

Viel Wien mit Fiaker und Pipapo steckt im dazugehörigen Video. Für mich sieht es so aus, als sei es ohne Schnitt gedreht. Deshalb hat auch der Sänger meine komplette Bewunderung dafür, daß er es schafft, sich während der kurzen Akkordeon-Passage eine Zigarette aus der Jacke zu fingern, sie an der frischen Luft  zu entzünden und pünktlich zum Weitersingenmüssen den ersten Zug zu exhalieren. Sehrsehr lässig. Wiener halt. Schaut her:

Truckspotting (4)

Bei Wind und Wetter standen (erst) und saßen (dann) Bademeister Matthias, Trauma-Anne und ich auch in dieser Saison wieder morgens vor der „Bar Italia“. Wobei Anne am schnellsten zieht: nämlich ihr Handy, um damit gespottete Trucks

gleich dokumentieren zu können. Hier noch

ein paar besonders schöne beschriftete

oder rätselhaft benannte Lastwagen,

die nur Menschen mit Hang zu albernen Synonymen gerne „Brummis“ nennen:

(Alle Fotos: Anne Janzen)

Schön verlesen

Am Kiosk fette Schlagzeile einer Boulevard-Zeitung:

„BERLINER WAHRSAGERIN SCHMEISST HIN!“

In Wirklichkeit ist es die Berliner „Wahl-Versagerin“, die hingeschmissen hat, meint: Die Landeswahlleiterin ist zurückgetreten. Meine Lesart aber natürlich viel phantasiebeflügelnder.

Momenteindrücke – Sonst war nichts

Vor einem guten Jahr ist „Sonst war nichts“ erschienen. Beim Wiener Schriftsteller Peter Altenberg fand ich jetzt eine Selbstbeschreibung, die auch auf mein autobiographisches Erzähl-Projekt angewendet werden könnte:

„So also schauen meine Lebenserinnerungen aus, mit denen ich in einem großen Blatte aufwarten soll?!? Ich sage es ja immer: Dieser Peter Altenberg ist nur für Momenteindrücke auf die Welt gekommen!“

(Peter Altenberg, „Das macht nichts: Neues Altes aus dem Kaffeehaus“, S. 225)

Nicole, Hitchcock und ich

Freundin Nicole ist eine Fachfrau für Traum-Angelegenheiten. Deswegen hat sie auch gleich auf meinen vorletzten Blog-Eintrag zu den nächtlichen Erlebnissen von Hitchcock und mir reagiert – und eine eigene Erfahrung beigesteuert, die für sie sehr schlimm, für alle anderen aber sehr lustig ist. Doch lest selbst:

„Sankt Neff, ich bin total beeindruckt! Du bist der erste Traumaphoristiker, den ich kennenlernen durfte. Allerdings würde ich gerne mehr über diesen Traum erfahren. Wie kommt es zu diesem Satz? Vielleicht kläre ich das in meinem nächsten Klartraum. Dann berichte ich dir.

Ich muss dir jetzt auch was erzählen: Vor einigen Wochen habe ich nachts von einer unglaublichen Erfindung geträumt. Als ich morgens aufgewacht bin, war mir klar, dass ich mir das sofort patentieren lassen muss und dass ich wahrhaft etwas erfunden habe, was es so noch nicht gibt, aber jeder Mensch braucht. Ich war von mir selbst schwer beeindruckt, bin beschwingt in die Küche, habe gutgelaunt das Frühstück zubereitet und meiner Familie von dieser einzigartigen Idee erzählt. Und jetzt kommts!

Ich weiß nicht mehr, was es war! Seit Tagen grüble ich, aber es will mir nicht mehr einfallen. Und das noch Schlimmere: meine Familie hört mir schon gar nicht mehr zu, wenn ich wieder einen Traum erzähle – sie wissen von nichts! Ich bin sehr verzweifelt. Da kann ich mich jahrelang an jeden noch so albernen Traum erinnern und jetzt, wo es mal wirklich wichtig wäre, versagt mein Traumerinnerungsvermögen.“

Abgesehen von Nicoles verständlicher persönlicher Enttäuschung, frage ich mich: Gibt es das, Dinge, die jeder Mensch braucht, die aber noch nicht erfunden wurden? Was meint Ihr?

80 Jahre Henscheid

Wann hast du es als Schriftsteller geschafft? Nobelpreis? Natürlich nicht. Geschafft hast du es als Schriftsteller, wenn sich schon zu deinen Lebzeiten eine Kneipe nach dir benennt.

„Henscheid“

– so heißt seit ein paar Jahren eine Gastwirtschaft in Frankfurt. Zu Ehren eines großen Mannes, der genau heute genau 80 Jahre alt wird.

Von Eckhard Henscheid stammen einige der schönsten Sätze, die je in deutscher Sprache geschrieben wurden. Zum Beispiel die hier aus „Dolce Madonna Bionda“:

„Im Gehen suchte Hammer leis zu weinen. War aber noch zu früh.“

Martin Mosebach hat Henscheid mal als „Erdteil“ bezeichnet. Das ist eine passende Metapher, finde ich. Denn sowohl der Autor als auch sein Werk erscheinen wie ein ganz eigener, völlig unabhängig existierender Kontinent. Nie habe ich einen Menschen kennengelernt, in dessen Kopf sich derart viele Interessens- und Wissensgebiete versammeln: Literatur, Musik, Malerei, Schach, Fußball, Katholizismus, Klatsch und Tratsch. Und natürlich die Freude an allen Spielarten der Komik.

Als ich die Eheleute Henscheid vor fünf Jahren besuchte, freuten sich die beiden wie Kinder darauf, mir zu demonstrieren, daß ihr 29 Jahre alter roter Fiat Panda als einziges Auto Ambergs durch eine sehr enge Gasse der Altstadt paßt.

Tags drauf dann, Karfreitag, unterwegs zu einem Ausflug, will Henscheid mir das Kunststück erneut vorführen –  und schrammt mit dem Panda erst ordentlich links an, nach dem Zurücksetzen dann nochmal volle Kanne krachend rechts.

Was den abenteuerlustigen Mann nicht davon abhält, auf dem Heimweg  unverdrossen abermals die Herausforderung zu suchen – und vor einer Gruppe von staunend schauenden Karfreitags-Gottesdienst-Besuchern zu meistern.

Ein Meister der Komik, aber auch der fast unaushaltbaren Zartheit. Wie hier, am Schluß der Novelle „Maria Schnee“:

„Hermann sah lang in die Luft hoch und ließ endlich die Augen wieder zurückfallen. Im geöffneten linken Parterrefenster war Hubmeiers Rumpf erschienen, mitsamt dem Kopf schon leicht nach draußen hin geneigt. Etwas ertappt nickte dem Wirte Hermann zu. Hubmeier lächelte diskret und hob auch schon den rechten Arm. Mit der flachen fächelnden Hand winkte er Hermann bewegt und freundlich zu und ihm noch lange nach.“

Hitchcock und ich

Alfred Hitchcock hatte das Gefühl, nachts – im Traum oder Halbschlaf – die besten Ideen für Filme zu haben. Also legte er Papier und Bleistift neben sein Bett, um diese Einfälle im Zweifelsfall auch gleich aufschreiben zu können.  Einmal wachte er morgens auf mit der vagen Erinnerung, nachts etwas notiert zu haben. Hitchcock schaute neugierig, vorfreudig auf den Zettel. Und tatsächlich – dort stand:

„Boy meets girl.“

An diese Anekdote mußte ich denken, als ich neulich morgens einen  Zettel neben dem Telefon entdeckte.

In der vorangegangenen Nacht war ich aufgewacht und hatte gedacht:  ´Da habe ich aber gerade etwas Interessantes geträumt.´  Ich ging aufs Klo und memorierte: Im Traum hatte ich ein Buch gelesen und mir darin eine Stelle angestrichen. Weil mir das geträumte Zitat so bemerkenswert vorkam, zwang ich mich trotz großer Müdigkeit dann, den angestrichen Satz auf einen Zettel neben dem Telefon zu notieren. Ging wieder ins Bett und schlief weiter.

Und anders als Hitchcock, wurde ich am nächsten Morgen nicht enttäuscht durch die Banalität des Einfalls.  Denn auf dem Zettel stand in müde-krakeliger Schrift:

Ich habe gelernt, daß das Lachen über Kinderlosigkeit nichts anderes ist als abgelöste Erschöpfung.“

Was immer das zu bedeuten hat: Es klingt anregend rätselhaft. Und ich bin ein bißchen stolz auf die Komplexität meiner Träume. Denn ich habe ja nicht nur geträumt, ein Buch gelesen und eine Stelle angestrichen zu haben. Ich habe das Buch auch selbst geschrieben. Immerhin ein Satz daraus ist hiermit überliefert.

Spinat-Zitat

Der Marmorkuchen-Satz läßt mich nicht los. Warum? Weil: Alles ist mit allem wunderlich verwoben. Gerd Müller mit Thomas Bernhard und Thomas Bernhard mit Peter Altenberg.

Also: Gerd Müller schreibt in seiner Autobiographie:

„Marmorkuchen, den ich sehr gerne esse, bäckt meine Frau, sooft ich Appetit darauf habe.“

Die einnehmende Schlichtheit des Ausdrucks und des Geschmacks führt uns zu Thomas Bernhard. Der verbrachte viel Zeit mit seinem Nachbarn Karl Ignaz Hennetmair: vor dem Fernseher, beim Essen. Am Gründonnerstag des Jahres 1972 hält Hennetmair in seinem Tagebuch einen gemeinsamen Vorsatz fest:

„Wir haben uns vorgenommen, öfter Spinat mit Spiegelei zu essen, denn es schmeckt so gut.“ 

Für Bernhard war Spinat also offenbar eine Köstlichkeit. Für seinen Vorfahren, den österreichischen Schriftsteller Peter Altenberg, noch mehr, kwasi eine göttliche Erscheinung.

„Der Spinat fühlt: ´Was bin ich für eine wunderbare Anordnung von lebendigen Zellen, was für ein Mysterium von geheimnisvollem Leben und Walten!?´ Aber der Koch macht ein einfaches Püree daraus, und der Mensch frisst es ohne Phantasie!“ (Peter Altenberg, „Das macht nichts:  Neues Altes aus dem Kaffeehaus“, S. 119)

Der Spinat in der Weltliteratur. Wenn Ihr andere Spinat-Zitate kennt: immer her damit.

Solche Sätze

Eins weiter unten habe ich – wahrheitsgemäß – behauptet, der Marmorkuchen-Satz von Gerd Müller verdichte ein komplettes Leben.

Solche Sätze konnte auch der Hamburger Komiker Heino Jaeger. Für seine Figuren hat er sie sich zuhauf ausgedacht. In einer Nummer ruft eine ältere Frau bei der Telefonberatung an und eröffnet das Gespräch mit Worten, die einen wahren Schicksals-Abgrund aufreißen:

„Wir wohnen am Waldrand und sind kinderlos geblieben.“ 

Und noch einmal für Gerd Müller

Mein Nachbar in Bad Belzig, DDR-sozialisiert, den ich gestern am Zaun traf, zeigte mir auf seinem Handy die Eilmeldung zum Tod von Gerd Müller und sagte:

„Traurig, oder?“

Ja, traurig.

Das Finale der WM 1974 ist meine erste Erinnerung an Fußball im Fernsehen, an Männer, die jubelnd über das Tor von Gerd Müller aufsprangen und mit dem Kopf an die Lampe im Wohnzimmer von Walterscheids knallten. Dort schauten wir alle gemeinsam, denn Walterscheids hatten den einzigen Farbfernseher der Straße.

So singulär Gerd Müller als Fußballer war, so schlicht und gutmütig, war er, nach allem, was ich gesehen und gehört habe, von Gemüt. Ein schlichtes und gutmütiges Gemüt, das sich auch in seinen kulinarischen Vorlieben zeigte: In fast allen Nachrufen ist von Kartoffelsalat als Leibgericht die Rede, gelegentlich auch von Wurstsalat. In seiner Autobiographie „Tore entscheiden“  erwähnt  Gerd Müller noch ein drittes:

„Marmorkuchen, den ich sehr gerne esse, bäckt meine Frau, sooft ich Appetit darauf habe.“

Ein syntaktisch wie inhaltlich ewigkeitswürdiger Satz, in dem sich ein komplettes Leben verdichtet. Vor fünf Jahren habe ich ihn hier schon mal zitiert – Gerd Müller zu Ehren. Heute muß das nochmal sein.

(Foto: Panini-Sammelbild 1973/74)

P.S. tags drauf: Heute in der ´Süddeutschen´ dann noch ein Interview mit Hermann Gerland, der Gerd Müller als Gegenspieler kannte und später mit ihm ein Trainer-Gespann bildete. Ein Interview, aus dem die reine Liebe spricht. Außerdem erfahren wir von einer weiteren kulinarischen Vorliebe Müllers:

„Wenn wir Eis essen waren – Gerd wollte immer Eis essen! – hat er es immer so eingerichtet, dass er bezahlt hat. Ich hab gesagt, Bomber, du weißt schon, dass ich beim FC Bayern auch Geld verdiene? Da hat er nur gelacht.“

Und enden tut das Interview noch herzergreifend pathetischer:

„Gerd war als Fußballer unvorstellbar gut, aber ich sage Ihnen jetzt mal was: Als Mensch war er noch besser! Ich würde das auch nicht glauben, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte. Der Bomber war der Allergrößte.“ 

Mein All