Teichoskopie beim Spiel Deutschland – Ungarn

Wenn es wirklich gerade sehr spannend zugeht bei der Europameisterschaft und die deutsche Mannschaft gegen das Ausscheiden ankämpft, dann ist es nicht gut, wenn der internet-abhängige Fernseher sich aufhängt, das Bild einfriert und der Vater fluchend versuchen muß, die janze elende Chose wieder ans Laufen zu bringen. Gut hingegen ist es, wenn der Sohn geistesgegenwärtig reagiert, in sein Zimmer rennt, ein Fernglas holt, sich damit neben dem Fernseher ans Fenster stellt, das Spiel auf dem großen Bildschirm der Nachbarn verfolgt und dem verzweifelt an diversen Geräten rumfummelnden Vater den weiteren Verlauf inklusive Ausgleich, nochmals Rückstand und abermals Ausgleich reportiert.

Die Sache ging gut aus. Und mit ein bißchen Abstand fiel dem Vater auf, daß sich der Sohn einer Technik des antiken Schauspiels bedient hatte: der Mauerschau, der Teichoskopie. Jemand schildert aus einer erhöhten Position, was die Zuschauer nicht sehen können, was aber angeblich hinter der Mauer vor sich geht. In der Antike war das allerdings nur ein dramaturgischer Trick. Beim Sohn nicht.  Der hat dank Geistesgegenwart und Fernglas tatsächlich mehr gesehen als der Vater. Und ihn freundlicherweise dran teilhaben lassen.

Wann fertig?

Der U-Bahnhof Bismarckstraße, den ich fast täglich zum Umsteigen nutze, wird seit vielen Jahren umgebaut. Eigentlich sollte er im Herbst 2018 fertig sein.  Das erschien mir bei Baubeginn noch sehr weit weg.  Es  gab  Schautafeln, die anzeigten, wie der renovierte Bahnhof einmal aussehen soll, versehen mit der Behauptung: „Das Warten lohnt sich.“

Der angepeilte Fertigstellungs-Termin verschwindet nun kontinuierlich  in der Vergangenheit. Zwar wurden zwischenzeitlich an vielen Stellen sehr geschmackvolle meeresgrüne und weinrote Kacheln angebracht, aber es gibt auch noch reichlich nacktes Mauerwerk und lose Kabel. Die Schautafeln mit der schönen Aussicht sind weg.  Das Warten geht weiter.

Und geht auf die Nerven.  Einmal erlebte ich einen dunkelhaarigen, bärtigen Mann auf dem Bahnsteig. Er schrie „Idioten! Ihr Idioten!“ Dann zu uns, den Wartenden, gewendet: „Nein, nicht ihr. Sondern die, die das hier nicht fertig kriegen, den Scheiß-Bahnhof. Die Kacheln hier und den Kabelsalat.“ Dann entfernte er  sich und noch von weitem hörte ich ihn immer wieder „Idioten!“ rufen

Ich konnte seine Aggressivität verstehen. Bestimmt gibt es Gründe für die Verzögerung der Arbeiten. So eine Stadt mit so viel alter Bausubstanz und gewaltiger Infrastruktur ist ja auch ein schwer in den Griff zu kriegender Apparat. Aggressiv macht diese neverending Baustelle trotzdem. Auch ich könnte manchmal darob schreien. Wenn ich denn könnte.

Beim Umsteigen entdeckte ich jetzt auf einer der noch unfertigen Stellen des Bahnhofs diesen  Trialog hier:

Er bringt nicht nur die Zumutung unter der Bismarckstraße, sondern eigentlich unser komplettes, agenda-getriebenes Dasein sehr knapp auf den Punkt. Die elliptische und dadurch leicht ermattet wirkende Frage „Wann fertig?“ stellt sich unsereinem tausend Mal am Tag, auch in der Nacht. Die Antwort oszilliert je nach Stimmung zwischen „Morgen!“ und „Nie“.

Ein Sinn des Lebens

Vielleicht nicht der, aber ein Sinn des Lebens, dachte es kürzlich in mir, ist möglicherweise:

der Sinnlosigkeit den Unsinn entgegensetzen.

Unsinn im Sinne von:

Umgehung zwangsläufiger Logik,

Befreiung aus der Erwartbarkeit der real existierenden Realität,

Vermeidung unnötigen Ernstes,

Erweiterung des Bewußtseins und Aufhebung der Schwerkraft mit den Mitteln der Komik.

So ungefähr.

Test

In der Pubertät fanden Freund Alexander und ich Gefallen daran, uns Wörter auszudenken, die es noch nicht gab. Sie sollten nichts bezeichnen, sondern schlicht durch Klang erfreuen und erheitern. Nämlich uns, die wir die selbst erfundenen Wörter immer wieder aussprachen, um uns danach zuverlässig über sie zu bepissen. An eins kann ich mich noch erinnern. Jetzt möchte ich es entlassen, aus unseren Kinderzimmern in die Weltöffentlichkeit. Nur um zu sehen, was passiert: 

Möron.

Not being Wiglaf Droste

Es regnete in Hamburg.

War ja klar.

Und ich mal wieder: weder Schirm noch Kapuze.

Unterwegs in St. Georg,

Lange Reihe.

Und dort im Souterrain

ein Hutgeschäft

namens „Chapeau St. Georg“.

Ich trat ein und sah

einen Herrn im Sessel

mit Hut auf dem Kopf.

Er saß da und probierte,

wie er sich anfühlt, der Hut.

Dann stand er auf,

trat vor den Spiegel,

musterte sich,

ging ein paar Schritte,

dann wieder Sessel.

Die zweite Person im Raum

– hab ich sie schon erwähnt? – :

die Hutverkäuferin,

rote Haare, schön,

flamboyant sagt man wohl,

sie zeigte mir Hüte

mit gutem Gespür

dafür,

was mir passen könnte,

was zu mir passen könnte.

Ich trat vor den Spiegel

und dachte: Nicht schlecht,

eigentlich sogar gut,

der Hut,

aber ich kann ihn unmöglich tragen,

durch Kreuzberg laufen damit,

bin doch kein Künstler,

bin doch nicht Wiglaf Droste.

Der durfte das.

Künstler mit großem Kopf dürfen das.

Mit Hut durch Kreuzberg laufen,

die Jacke ausziehen,

sich hinsetzen,

den Hut noch auf dem Kopf,

wie selbstverständlich

bei Wiglaf Droste.

Bei mir aber nicht.

Das sagte ich der Verkäuferin.

Und sie blieb schön, freundlich und sagte:

Wie wärs denn mit einer Mütze?

Schauen Sie doch mal dahinten.

Das tat ich

und bediente mich.

Nahm eine vom Haken

in die Hand.

Die Schiebermütze sprach mich an:

Mein Name ist Stetson.

Darf ich mich setzen?

Sie durfte

und siehe da:

Sie paßte.

Wir fühlten uns sofort wohl mit einander.

Sie auf mir,

ich unter ihr.

Also schnurstracks zur Kasse.

Die Verkäuferin freute sich schön

und nannte den Preis.

Ich mußte kurz schlucken.

War ziemlich teuer.

Ein hübsches Sümmchen.

Aber es gab kein Zurück:

vor der schönen Verkäuferin,

dem feinen Herrn,

immer noch im Sessel,

aber mit anderem Hut auf dem Kopf.

Nein, es gab kein Zurück.

Und hab es nicht bereut seither.

Hab mich so oft gefreut seither.

Wenn ich aus dem Haus geh,

kurz bevor ich rausgeh:

Greif ich zur Mütze von Stetson

und frag sie: Willst du dich setzen?

*

Heute vor zwei Jahren starb Wiglaf Droste. Ihm, dem großen Hutträger, ist dieses Gedicht gewidmet. Das Foto zeigt ihn fidel rauchend im Bielefelder Crüwell-Tabakhaus.

Truckspotting (3)

Aus Gründen stehen Trauma-Anne, Bademeister Matthias und ich morgens immer noch regelmäßig am Stromkasten vor der „Bar Italia“, trinken Kaffee, plaudern und spotten trucks. Wir haben gerade eine sehr erfolgreiche Phase. Nach Lastwagen der Speditionen

„Schlau“

und

„Schnell“

registrierten wir jetzt auch ein Fahrzeug der Firma

„Streng“.

Immer wieder mal vorbei kommen auch Trucks der Firma

„Sackmann“,

die nur noch wohlklingender wäre, hieße sie

„Sackmann und Söhne“.

Als die Kollegen Claudius Hagemeister, Robin Rudolph und ich vor vielen Jahren über die Gründung einer Lesebühne in Kreuzberg nachdachten, schlug ich als Namen

„Elend und Söhne“

vor. Pate dafür stand Egon Elend. der frühere Gärtner der Friedhöfe an der Bergmannstraße. Dann aber entschieden wir uns für „Menschen auf Stühlen“.  Das nur zwischendurch und nebenbei.

Weitere schöne Erfolge des Truckspottings in den vergangenen Wochen:

„König-Trans“

und ein Fuhrunternehmen, das gold auf grün

„Göttlich“

auf seine Lastwagen schreiben darf, was mich schon allein deshalb mit wärmsten Gefühlen durchflutet, weil ich im Bonner „Café Göttlich“ gleich gegenüber der Universität einen Großteil meiner Studienzeit verbracht habe. Tempi et loci passati. Das nur nebenbei und zwischendurch.

Zum Schluß sei noch ein form- und farbschön beschrifteter Lastwagen dokumentiert, den Trauma-Anne am Mehringdamm geistesgegenwärtig mit ihrem Handy aus der Hüfte fotografierte.

Kunst und Prophetie (2)

Schon elf Jahres ist es her, daß Thomas Kapielski das hier in sein Buch „Mischwald“ (S. 298) schrieb:

„Das Internet zum Beispiel: Was hier bisweilen für eine dumpfe Wut und Mordgier neben schierem Querulantentum und ödester oder gruseliger Geilheit sich schadenfroh und verdeckt austobt, ist subanimalste (vulgo humane) Niedertracht vermittelst Hochtechnik.“

Was zum Zeitpunkt der Niederschrift vielleicht nur andeutungsweise erkennbar war, hat sich bis heute exponentiell verschärft. Eine Entwicklung, die der olle, aber schlaue Kapielski früh schon wahrsagerisch witterte, nicht twitterte. Aufgehoben ist diese Prophetie in einem schönen Buch, das so grün ist wie die Blätter der Kastanie vor unserem Haus genau jetzt. Hab Buch und Baum gerade noch verglichen.

Mein All