Auch in „Hell´s Kitchen“ war sonst nichts

„Am schönsten isset, wenn et schön is.“

Sagt der Rheinländer.  Aber auch die Rheinländerin. Und beiden höre ich gerne zu.

Schön bis schönst ist es zum Beispiel, wenn Du einen Roman in Miniaturen schreibst, von Anfang an weißt, daß er „Sonst war nichts“ heißen soll, den Titel auch gegen anderslautende Vorschläge von Verleger und Lektor verteidigst, wenn Dein Buch also mit diesem Namen auf die Welt kommt, unter die  Leute, die Leute ihn dann wie selbstverständlich auch in anderen Zusammenhängen, kwasi redensartlich, verwenden, die Literatur sich also verselbständigt und ein Eigenleben zu führen beginnt, das darin gipfelt, daß Christian Zaschke ausgerechnet die 100. Folge seiner New York-Kolumne „Hell´s Kitchen“ in der wochenendlichen ´Süddeutschen Zeitung´ mit den Worten „Aber sonst war nichts.“ beschließt.

Die Welt ohne sie

Gestern berichtete die „Tagesschau“ über den Beginn der Impfungen in einem Kölner Altenheim. Als erste ist eine sehr hübsche 92jährige Frau dran. Sie hofft auf eine Zeit ohne Corona und sagt:

„Ich möchte auch nicht vorher gehen müssen. Ich möchte erst wissen, daß Ihr noch alle schön leben könnt. Würd ich mir wünschen, daß die Welt wieder in Ordnung kommt.“

Diese vielleicht etwas naive, auf jeden Fall aber altruistische Perspektive auf das Leben nach ihr, die Welt ohne sie rührte mich.

Menschenfreundlichkeit

Selbst ich, der ich ein „Sankt“ in meinem Namen trage, bin selbst jetzt, kurz vor Weihachten, nicht frei von menschenfeindlichen Anflügen: Warum sind die alle hier? Können die nicht weggehen? Was wollen die von mir? Können die nicht auch mal ausweichen, die Ärsche? Undsoweiterundsofort. So denkt es manchmal in mir. Diese Feindlichkeit kann sich gegen Menschen im allgemeinen, aber leider auch gegen wehrlos Einzelne richten. Und ich ertappe mich bei Neid, Verachtung, Mißgunst, Abwertung, bösen Dingen.

Was tun dagegen?

In den Tagebüchern von Walter Kempowski stieß ich auf einen menschenfreundlichen Rat:

„Wenn man gegen Menschen ´was hat´, sich Kinderbilder von ihnen zeigen lassen.“

(Walter Kempowski, „Alkor“, S. 496)

Was auch helfen könnte: Sich, frei nach PeterLicht, zu sagen:

„Vielleicht ist er/sie gar nicht so, wie er/sie ist.“

Wenn das alles nichts nutzt, dann einfach mal Fresse halten, allein sein, frische Luft, rauf auf den Berg in Bad Belzig und rein in die frisch renovierte Briccius-Kirche, ein Kerzlein anzünden, ein bißchen dasitzen.

„Vielleicht sind wir hinterher nette, nette und nützliche Menschen.
Vielleicht sind wir hinterher irgendwie anders.“

(Foyer des Arts, „Schleichwege zum Christentum“)

Am Küchentisch

Der neuerdings an Philosophie und schlaumeierischen Sentenzen interessierte Junge (knappst 16) zitiert beim Abendessen zunächst Homer:

„Denn nicht ist auf der Welt ein jammervolleres Wesen als der Mensch, unter allem, was atmet und kriecht auf der Erde.“

Dann Schopenhauer:

„Die komparativ Glücklichen sind es meistens nur scheinbar, oder aber sie sind, wie die Langlebenden, seltene Ausnahmen, zu denen eine Möglichkeit übrig bleiben mußte, – als Lockvogel.“

Die Mutter fragt nach, wie das gemeint sei mit den „komparativ Glücklichen“. Der Sohn erläutert. Die Tochter (12) hört sich alles an und sagt dann gänzlich unbeeindruckt:

„Ich bin glücklich.“

Der Vater freut sich daran, wie schön hier die noch kindlich-ungetrübte Lebensfreude einerseits, die juvenile Lust am Nihilismus andererseits aufeinandertreffen.

Nikolaus mit Adilette

Während das Mädchen (12) den kleinen schwarzen Stiefel noch bereitwillig putzt und vor die Tür stellt, reagiert der Sohn, mit knapp 16 im besten Topchecker-und Hochmut-der-Adoleszenz-Alter, auf die Aufforderung erstmal ablehnend:

„Ich bin nicht mehr so interessiert am Materialistischen.“

Als ich später nachschaue, sehe ich aber, daß er der Kindheit und dem Materialismus doch noch nicht so ganz entwachsen ist: Er hat eine Adilette rausgestellt.

Der Nikolaus belohnte nachts dann beide: Das Mädchen mit Schoko-Nikolaus und zwei Paar Socken aus Lammwolle, den Jungen mit Schoko-Nikolaus und Lektüre für adoleszent hochmütige Topchecker: Friedrich Nietzsches „Ecce homo“.

Sebastian Krämer

Kennt Ihr den? Solltet Ihr.

Großartiger Künstler. Sänger, Pianist, Liedermacher. Um Lichtjahre heller und schneller in der Birne als fast alle. Jetzt hat er ein neues Album veröffentlicht: „Liebeslieder an deine Tante“.  Viele der keineswegs unterkomplexen, aber doch sehr eingängigen Melodien kann ich schon mit- oder nachpfeifen. Die Texte auch von beneidenswerter Kunstfertigkeit. Als Beleg ein Zitat aus dem Lied „Gute Nacht“, das den abendlichen Horror vor dem Vakuum der Nacht besingt:

„Jetzt ham wir ein Weilchen geschwiegen.
Aber ich hab dich blinzeln gehört.
Wir können auch einfach nur liegen.
Mit dir ist´s das allemal wert.
Sag mal, ham wir noch Liebe von neulich?
Oder wird jetzt noch welche gemacht?
Dein Schweigen ist mehr als verzeihlich.
Unverzeihlich wär´ nur Gute Nacht!“

Mein Bis-dato-Favorit von Sebastian Krämer heißt „Hundert Schritte“ und verklammert aufs Herzergreifendtse diverse Liebeserklärungen: an die vom Aussterben bedrohte Videothek, an Berlin und an das ganze Universum.  Schaut und hört doch mal rein:

Zwischen Brecht und Brussig

Als Fortsetzung meiner offen selbstverliebten Reihe „Wo stehe ich eigentlich?“ schauen wir heute ins Bücherregal von Dr. Christian D., der  sein Foto so kommentierte:

„Du neben Brecht: angemessen. Neben Brussig: naja…“

Fühle mich geehrt, darf aber sagen: Ich habe keinerlei Berührungsängste:

„Ob Brussig oder Brecht: mir sind sie alle recht.“

Wer zum Teufel ist Sankt Neff? (13 und Schluss)

„´St. Neff´ – ja, da wäre noch etwas Hanebüchenes nachzutragen, etwas sehr Dummes, aber es muß wohl sein. ´St. Neff´ paßt gut in den Rahmen meiner wunderlichen Verhältnisse, es ist dies eine Art Geheimnissprache, ein Code zwischen mir und der Schwiegermutter – meine Frau kennt den idiotischen Namen zwar auch, macht aber, unlustig wie sie nun mal ist, keinen Gebrauch von ihrem Wissen. Der Name rührt daher, daß ich vor etwa vier Jahren mit einem Riesenschwips von einem Richtfest heimgekehrt sein und die beiden fernsehenden Frauen schwer schmunzelnd mit den Worten ´So, jetzt ist er wieder da, der St. Neff!´ begrüßt haben soll. Sie, die Schwiegermutter, erzählte mir dann am andern Tag, sie habe mich auch gleich gefragt, was das mit dem ´St. Neff´ zu bedeuten habe – allein ich, Neff, hätte es nicht gewußt, sondern immer nur gekichert und rätselhaft geschmunzelt und beteuert, ich sei nun einmal ´der St. Neff´. Ob das ein Heiliger sei oder was, habe sie, Monika, wissen wollen – ich aber hätte es auch nicht gewußt, hätte aber betont, daß das  ´kein konkret-aktiver Heiliger´ sei, sondern ´ein negativistischer´ bzw. ´eben ich, St. Neff.´ ´St. Neff´ – ich weiß bis heute nicht, was für einen komischen Heiligen ich mir da eingeredet habe.“

(Eckhard Henscheid, „Die Mätresse des Bischofs“)

Wer zum Teufel ist Sankt Neff? (12)

„Der Mensch ist so geneigt, sich mit dem Gemeinsten abzugeben, Geist und Sinne stumpfen sich so leicht gegen die Eindrücke des Schönen und Vollkommenen ab, daß man die Fähigkeit, es zu empfinden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte. Denn einen solchen Genuß kann niemand ganz entbehren, und nur die Ungewohnheit, etwas Gutes zu genießen, ist Ursache, daß viele Menschen schon am Albernen und Abgeschmackten, wenn es nur neu ist, Vergnügen finden. Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht von Sankt Neff lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“

(Johann Wolfgang Goethe, „Wilhelm Meisters Lehrjahre“)

„Sonst war nichts“ mit Ulrich Matthes

Was bin ich froh, daß das vor ein paar Wochen noch möglich war: Echte Menschen treffen sich in echt in echten Räumen, sitzen auf echten Stühlen, lesen sich in echt Geschichten vor und hören echt zu.

So begab es sich märchenhafterweise am 8. Oktober 2020, daß ich gemeinsam mit Ulrich Matthes einer erklecklichen Anzahl erlesener Menschen im Europäischen Theater-Institut über den Dächern von Berlin ziemlich viele ziemlich kurze Kapitel aus meinem Miniatur-Roman „Sonst war nichts“ vorlesen durfte.

Das heißt: Hauptsächlich las Ulrich Matthes. Und währenddessen hatte auch ich das Vergnügen, dabei zuhören zu dürfen, wie ein großer Könner meine Texte anscheinend oder scheinbar anstrengungslos nobilitierte, indem er sie vortrug, wie er sie eben vortrug.

Wer nicht so viel Zeit hat, kann sich hier einen kurzen Eindruck verschaffen:

Wer viel Zeit, kann sich hier einen langen Eindruck, von der kompletten Lesung nämlich, verschaffen, die Oliver Nötzel dankenswerterweise aufgenommen hat:

Was bin ich froh, daß es jetzt Beweise gibt. Daß das nämlich tatsächlich genau so stattgefunden hat.

Fotos: Oliver Nötzel