Alle Beiträge von Sankt Neff

Was schön ist (9)

Da stehst Du samstagmorgens pünktlich um 8h59 vor dem Café, wirst eine Minute später eingelassen, hast als erster Gast das Recht des Zugriffs auf die noch unberührte ´Süddeutsche Zeitung´, bestellst einen Americano, ein Tramezzino und ein Cornetto, verfügst dich mit all dem an einen Tisch im hinteren Bereich, vertiefst dich ins Blatt, mußt ein bißchen weinen bei der Lektüre eines Artikels über Angela Merkels  Besuch in Auschwitz, machst dir Notizen, nicht tippend ins Handy, sondern mit neuem  Kaweco-Stift auf Serviette, arbeitest dich vor bis zum Gesellschafts-Teil, in dem Christian Zaschkes Kolumne „Hell´s Kitchen“ als Höhepunkt auf dich wartet, und wirst nicht enttäuscht, denn darin findest du die Formulierung, der Roman „Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz“ von Fruttero & Lucentini sei „schlau, zart, verwegen und komisch auf eine Weise, die einen in den Herzkammern lächeln läßt“

– und darfst darob in den Herzkammern lächeln.

Wenn ich Ihnen, Albert Ostermaier,

und Ihrer Laudatio in der ´Süddeutschen Zeitung´ glauben darf, handelt es sich beim frischgekürten Literaturnobelpreisträger Peter Handke um einem „Topografen der Schattenräume“, in denen „das Unbewusste vermoost“, um „einen Finder und einen Erfinder der Sprache, die in allen Höhen am Boden haftet“, einen „Sommernachtsträumer“ im „Wald der Zeichen“, der als „Dramatiker ein Fallensteller“ ist, aber auch „ein Schöpfer des Unerschöpflichen“, dessen Zeilen „gerade dort einen Weg“ finden, „wo andere umkehren“.

Aber darf ich Ihnen glauben? Denn kurz nachdem Sie diesen unappetlichen Metaphernsalat angerichtet haben, behaupten Sie erst, daß schon die Buchtitel Handkes „einen Preis wert und unvergesslich“ seien, um dann sogleich auf die Angst des Tormanns „vor dem Elfmeter“ zu sprechen zu kommen. Doch hieß dieser unvergeßliche Roman nicht ein kleines bißchen anders? Vielleicht kehren Sie besser noch einmal sommernachtstraumwandlerisch um in den vermutlich unerschöpflichen, vielleicht aber auch ein wenig vermoosten Schattenraum Ihres Gedächtnisses und überprüfen Ihre Erinnerung.

Assoziationskettensägenmassaker

Besonders freudvoll: bei Nieselregen zu laufen. Die Luft ist gut. Weniger Menschen sind unterwegs. Schöne Pfützen bilden sich, die es zu umkurven oder überspringen gilt.

Schon zum zweiten Mal kommt mir in der Hasenheide ein Läufer entgegen, der ein rotes T-Shirt mit Aufdruck trägt:

„Identität?

Ein Flatus im Universum.“

Dieser Text löst in meinem Hirn aus, was Freund Andreas und ich früher, wenn die Gedanken im gemeinsamen Gespräch windeseilig und schneller, als wir sprechen konnten, vom Hölzchen aufs Stöckchen sprangen, „Assoziationskettensägenmassaker“ nannten.

Jedenfalls ließ mich der Aufdruck an das Kieser-Trainings-Studio in Berlin-Charlottenburg denken, in dem ich mal für eine Weile ein- und ausging. Dort verkehrte gehobenes Bildungsbürgertum mit aua Rücken, das man an T-Shirts wie

„Theater? Muss sein!“

erkennen konnte. Denken andererseits und nahezu gleichzeitig an John Irvings Roman „Das Hotel New Hampshire“, in dem es einen Hund gibt, der an chronischer Flatulenz leidet. Als ich den Roman irgendwann in den achtziger Jahren DES VERGANGENEN JAHRHUNDERTS las, lernte ich dieses Wort: „Flatulenz“.

Der Hund heißt in der deutschen Übersetzung

„Kummer“.

Nach einem Flugzeugabsturz schwimmt das tote Tier auf der Wasseroberfläche des Atlantiks. Das entsprechende Roman-Kapitel – auch das fiel mir beim Laufen nun wieder ein – trägt den Titel

„Kummer schwimmt oben“.

Diese Kapitel-Überschrift mochte ich immer sehr, was auch damit zu tun hat, daß mir das Wort „Kummer“ so gefällt, ebenso wie die verwandten:

kümmern, bekümmert, kummervoll, kümmerlich, Kümmerer, Kummerkasten, Kümmerling

Auch den Namen des Journalisten Tom Kummer fand ich immer eindrucksvoll und fast beneidenswert.

Die Vorliebe für die Wörter der Familie Kummer scheint Eckhard Henscheid zu teilen. Seinen letzten, „gotteskundlichen“ Roman nannte er

„Aus der Kümmerniß“.

Als Henscheid uns neulich in Berlin beehrte, schenkte er mir ein Exemplar dieses Buches. Das ich aber natürlich schon besaß. Also trug der Autor mir auf, es anderweitig weiterzuverschenken. Eine knifflige Aufgabe, denn das Werk ist sehr speziell und nicht ganz leicht zu lesen. Ich fragte also bei Thomas Kapielski an, mir bekannt als ein Freund schwieriger Bücher. Der aber beschied mich wie folgt:

„Freut mich, daß Sie da an mich denken!

Allein, ich habe die Kümmerniß. Da mir Henscheid das Buch abermals schickte, habe ich es an meinen Lieblingsoberatheisten weitergereicht.

Alles gesättigt also –

Mit Dank und Gruß

Ihr TK“

Da blieb als Empfänger nur noch mein Onkel Rolf. Der war es ja überhaupt erst gewesen, der mich in den achtziger Jahren DES VERGANGENEN JAHRHUNDERTS auf Henscheid, die ´Titanic´ und alles gestoßen hatte. Nun hat er den überschüssigen Roman also abgekriegt. Mal gepannt, ob er ihn lesen kann.

Das alles und noch viel mehr rioreiserte und rauschte mir durchs Hirn, als ich sonntags im Nieselregen durch die Hasenheide lief.

P.S. Zuhause schaute ich nach im Roman und stellt fest, daß das zitierte Kapitel – anders als ich jahrelang dachte – nicht

„Kummer schwimmt oben“

sondern

„Kummer obenauf“

heißt.

Die von mir erinnerte Version finde ich eigentlich schöner.

AMORE

So sah es nämlich aus in der Pause der Lesung, die ich vor zehn Tagen gemeinsam mit Albrecht Selge bestreiten durfte.  Selge war erstens keineswegs so häßlich, wie er sich angekündigt hatte (siehe unten). Zweitens las er in sehr angenehmer, teils sogar berührender Weise aus seinem richtig guten Roman „Fliegen“ vor. Drittens wußten Frank Paul Schubert und Assaf Fleischmann, wie Thelonious Monk auf Saxophon und Klavier gespielt gehört. Viertens ging das Publikum schön mit mit deutlich vernehmbaren Seufzern des Wohlgefühls und Juchhu-Rufen. Und schließlich danke ich Oliver Nötzel, daß er auf den Auslöser drückte, um dieses kleine Stilleben mit Brillen, Büchern, Glas, Kuli und AMORE festzuhalten. Denn:

„Wenn jemand fragt, wofür du stehst,

sag für Amore, Amore.

(Wanda, „Bologna“)

Wer zum Teufel ist Sankt Neff? (7)

„Eines Tages am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts saß Sankt Neff auf einem alten Friedhof in der Nähe von Kensington, als ein junger Polizist vom Weg abging und zu ihm herüber kam. Er wollte nur wissen, was der Heilige hier tat, aber die Frage war ihm offenbar peinlich. Sankt Neff sagte ihm, er schreibe an einem Gedicht, und bot ihm ein Sandwich an.“

(Muriel Spark, „Vorsätzlich Herumlungern“)

Zu Fuss, im Auto und im Zug mit Albrecht Selge

Der Schriftsteller Albrecht Selge hat bislang drei Romane geschrieben. Im ersten („Wach“) wird sehr viel zu Fuß gegangen, vor allem nachts, im zweiten („Die trunkene Fahrt“)  sehr viel Auto gefahren und im dritten („Fliegen“) sitzt die Protagonistin, anders als der Titel vermuten läßt, fast permanent im Zug.

Auch stilistisch unterscheiden sich die Bücher deutlich. Gemeinsam ist ihnen, daß sie richtig gut und lesenswert sind.

Deshalb freue ich mich besonders, Albrecht Selge heute in einer Woche (27. Oktober, 17 Uhr) bei „Menschen auf Stühlen“ im K-Salon (Bergmannstraße 54) begrüßen zu dürfen.

Vor einigen Wochen bat ich ihn um ein Pressefoto. Er mailte mir das hier:

Versehen mit dem Kommentar, ich solle „ruhig dieses“ nehmen. Es sei zwar „uralt“ und er, Selge, „mittlerweile viel hässlicher“, aber das merkten die Gäste ja erst, „wenn sie schon da“ seien, und dann seien sie „schon da“.

Die Argumentation ist in sich schlüssig und überzeugend. Glauben tue ich dem Mann trotzdem nicht.  Aber am Sonntag werden wir sehen: ihn – und alles.

Ein paar Dinge, die Sie unbedingt über Italien wissen sollten

Im schiefen Turm von Pisa

hängt wer? Die Mona Lisa.

 

Gemalt hat sie der? Dante.

Bei was wohl? Viel Spumante.

 

Dann fiel er von der Treppe

des Hauses von? Giuseppe.

 

Verdi nicht kennt, ich meine,

wer kennt ihn nicht und seine

 

berühmte Oper – warte –

die über Bonaparte,

 

der Pfirsich aß auf Melba

– bis heute unvorstellba!

 

Ein Muß ist auch Verona.

Berühmteste Bewohna

 

sind? Romeo und Remus,

die damals im VW-Bus

 

Italien bereisten,

ein Abendmahl verspeisten,

 

da Vincis Code erfanden

und unterm Fenster standen

 

von jena oder diesa,

von Mona oder Lisa,

 

von Hanni oder Nanni,

die grad mit Don Giovanni

 

sehr lustvoll auf dem Sofa

von Achim Casanova

 

Amore machten. Ecco!

Umberto trank Prosecco

 

und schrieb dabei Romane.

„Der Name der Platane“

 

erzählt von Barbarossa,

der weiland in Canossa

 

zur Kur war oder Buße.

Er starb dann wo? Am Fuße

 

der mächtigen Abruzzen

kurz nach dem Zähneputzen.

 

Ganz ähnlich wars bei Nero,

bei Cäsar und Cicero:

 

Sie putzten ihre Zähne

und machten große Pläne.

 

Doch kurz darauf schon: Ende!

Sehr schön sind auch die Strände

 

da unten bei Neapel.

Hier lief das Schiff vom Stapel,

 

auf dem der Marco Polo

– zu dieser Zeit noch solo –

 

mit einem treuen Diena

den Seeweg nahm nach China.

 

Zurück dann über Nizza,

an Bord die erste Pizza,

 

die sie sehr knusprig backten.

Soweit mal ein paar Fakten.

Erster

Das Internet lehrt Demut.  Du denkst einen Gedanken und denkst, du bist der erste der ihn dachte, schaust nach im Netz und stellst fest: Nichts da. Der Aby Warburg hat ihn auch schon gedacht (siehe weiter unten: „Detail versus Klischee“).  So kann es dir mit Gedanken gehen, mit Witzen, Formulierungen, Reimen.

Die Kehrseite der Demut ist der schwellbrüstige Stolz, der in dir Platz greift, wenn du ausnahmsweise zur Kenntnis nehmen darfst, daß du mit irgendwas vielleicht doch mal der erste bist.

So schrieb ich neulich ein albernes Gedicht, das  unter dem Deckmantel der Bildungshuberei lauter Quatschfakten über Italien vermittelt. In diesem Gedicht reimte ich „Abruzzen“ auf „Zähneputzen“, war ein bißchen stolz, schaute nach im Netz und war dann noch ein bißchen ungebremster stolz, als ich sah: Diesen Reim  scheint es vorher tatsächlich  noch nicht gegeben zu haben. Zumindest ist er nicht so ohne weiteres im Netz dingfest zu machen.

Das aber soll sich ändern. Denn in der kommenden Woche werde ich genau dieses Gedicht mit genau diesem bislang unerhörten Reim genau hier veröffentlichen. Schaut wieder vorbei, dann werdet ihr schon sehn.