„Nicht ausweichen, die volle Dosis Elend nehmen, die ganze Portion, bis zur Neige, und dann sagen: Ja, ich will – das ist Leben.“
(Wiglaf Droste, „Die schweren Jahre ab dreiunddreißig“, S. 210)
Von Kindheit an war mir klar: Wenn ich mal groß bin, werde ich Hellseher.
Frage
Immer wenn ich was Schönes sehe,
denk ich: Wie lange noch?
Denke: Es ist zwar schön, aber wehe!
Es vergeht ja doch.
Noch ist es schön,
aber bald ist es alt.
Noch ist es schön,
aber dann ist es dran.
Wenn wenigstens die Liebe bliebe.
Ich weiß es nicht
und hätt gern Gewißheit.
Ich weiß es nicht
und würde gern wissen,
ob, wenn nichts für immer besteht,
auch die Vergänglichkeit vergeht.
Antwort
Du leidest an der Vergänglichkeit?
Glaub mir, das geht vorbei.
Beim türkischen Bäcker am Eck hängt Werbung für das sogenannte „Bamberger Hörnchen“. Auf dem Bild ist ein Croissant mit einem gerollten Stück Butter drauf zu sehen. Darüber steht:
„…nie wurde der Hunger so respektiert.“
Aber wie respektiert man den Hunger? Indem man schlankweg ein „Bamberger Hörnchen“ ißt? Wäre es dem Hunger gegenüber nicht am respektvollsten, gar nichts zu essen? Den Hunger Hunger sein zu lassen? Zeugt es nicht von Respektlosigkeit, wenn nicht gar disrespect, dem Hunger mit reflexhafter Nahrungsaufnahme zu begegnen und ihn dadurch zu beenden oder zumindest kleiner zu machen?
Und warum eigentlich heißt bei meinem Bäcker das Buttercroissant „Bamberger Hörnchen“, obwohl das doch eigentlich eine alte Kartoffelsorte aus Franken ist?
Rätsel über Rätsel. Weiß wer Rat?
Da stehst Du samstagmorgens pünktlich um 8h59 vor dem Café, wirst eine Minute später eingelassen, hast als erster Gast das Recht des Zugriffs auf die noch unberührte ´Süddeutsche Zeitung´, bestellst einen Americano, ein Tramezzino und ein Cornetto, verfügst dich mit all dem an einen Tisch im hinteren Bereich, vertiefst dich ins Blatt, mußt ein bißchen weinen bei der Lektüre eines Artikels über Angela Merkels Besuch in Auschwitz, machst dir Notizen, nicht tippend ins Handy, sondern mit neuem Kaweco-Stift auf Serviette, arbeitest dich vor bis zum Gesellschafts-Teil, in dem Christian Zaschkes Kolumne „Hell´s Kitchen“ als Höhepunkt auf dich wartet, und wirst nicht enttäuscht, denn darin findest du die Formulierung, der Roman „Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz“ von Fruttero & Lucentini sei „schlau, zart, verwegen und komisch auf eine Weise, die einen in den Herzkammern lächeln läßt“
– und darfst darob in den Herzkammern lächeln.
„Heute rate ich allen: Schafft den Fernseh ab! Geht reden miteinander! Lest Sankt Neff! Hört feine Musik! Kümmert Euch um Kinder und Frau, um gutes Essen! Und bleibt skeptisch! Und menschenlieb!“
und Ihrer Laudatio in der ´Süddeutschen Zeitung´ glauben darf, handelt es sich beim frischgekürten Literaturnobelpreisträger Peter Handke um einem „Topografen der Schattenräume“, in denen „das Unbewusste vermoost“, um „einen Finder und einen Erfinder der Sprache, die in allen Höhen am Boden haftet“, einen „Sommernachtsträumer“ im „Wald der Zeichen“, der als „Dramatiker ein Fallensteller“ ist, aber auch „ein Schöpfer des Unerschöpflichen“, dessen Zeilen „gerade dort einen Weg“ finden, „wo andere umkehren“.
Aber darf ich Ihnen glauben? Denn kurz nachdem Sie diesen unappetlichen Metaphernsalat angerichtet haben, behaupten Sie erst, daß schon die Buchtitel Handkes „einen Preis wert und unvergesslich“ seien, um dann sogleich auf die Angst des Tormanns „vor dem Elfmeter“ zu sprechen zu kommen. Doch hieß dieser unvergeßliche Roman nicht ein kleines bißchen anders? Vielleicht kehren Sie besser noch einmal sommernachtstraumwandlerisch um in den vermutlich unerschöpflichen, vielleicht aber auch ein wenig vermoosten Schattenraum Ihres Gedächtnisses und überprüfen Ihre Erinnerung.
Besonders freudvoll: bei Nieselregen zu laufen. Die Luft ist gut. Weniger Menschen sind unterwegs. Schöne Pfützen bilden sich, die es zu umkurven oder überspringen gilt.
Schon zum zweiten Mal kommt mir in der Hasenheide ein Läufer entgegen, der ein rotes T-Shirt mit Aufdruck trägt:
„Identität?
Ein Flatus im Universum.“
Dieser Text löst in meinem Hirn aus, was Freund Andreas und ich früher, wenn die Gedanken im gemeinsamen Gespräch windeseilig und schneller, als wir sprechen konnten, vom Hölzchen aufs Stöckchen sprangen, „Assoziationskettensägenmassaker“ nannten.
Jedenfalls ließ mich der Aufdruck an das Kieser-Trainings-Studio in Berlin-Charlottenburg denken, in dem ich mal für eine Weile ein- und ausging. Dort verkehrte gehobenes Bildungsbürgertum mit aua Rücken, das man an T-Shirts wie
„Theater? Muss sein!“
erkennen konnte. Denken andererseits und nahezu gleichzeitig an John Irvings Roman „Das Hotel New Hampshire“, in dem es einen Hund gibt, der an chronischer Flatulenz leidet. Als ich den Roman irgendwann in den achtziger Jahren DES VERGANGENEN JAHRHUNDERTS las, lernte ich dieses Wort: „Flatulenz“.
Der Hund heißt in der deutschen Übersetzung
„Kummer“.
Nach einem Flugzeugabsturz schwimmt das tote Tier auf der Wasseroberfläche des Atlantiks. Das entsprechende Roman-Kapitel – auch das fiel mir beim Laufen nun wieder ein – trägt den Titel
„Kummer schwimmt oben“.
Diese Kapitel-Überschrift mochte ich immer sehr, was auch damit zu tun hat, daß mir das Wort „Kummer“ so gefällt, ebenso wie die verwandten:
kümmern, bekümmert, kummervoll, kümmerlich, Kümmerer, Kummerkasten, Kümmerling
Auch den Namen des Journalisten Tom Kummer fand ich immer eindrucksvoll und fast beneidenswert.
Die Vorliebe für die Wörter der Familie Kummer scheint Eckhard Henscheid zu teilen. Seinen letzten, „gotteskundlichen“ Roman nannte er
„Aus der Kümmerniß“.
Als Henscheid uns neulich in Berlin beehrte, schenkte er mir ein Exemplar dieses Buches. Das ich aber natürlich schon besaß. Also trug der Autor mir auf, es anderweitig weiterzuverschenken. Eine knifflige Aufgabe, denn das Werk ist sehr speziell und nicht ganz leicht zu lesen. Ich fragte also bei Thomas Kapielski an, mir bekannt als ein Freund schwieriger Bücher. Der aber beschied mich wie folgt:
„Freut mich, daß Sie da an mich denken!
Allein, ich habe die Kümmerniß. Da mir Henscheid das Buch abermals schickte, habe ich es an meinen Lieblingsoberatheisten weitergereicht.
Alles gesättigt also –
Mit Dank und Gruß
Ihr TK“
Da blieb als Empfänger nur noch mein Onkel Rolf. Der war es ja überhaupt erst gewesen, der mich in den achtziger Jahren DES VERGANGENEN JAHRHUNDERTS auf Henscheid, die ´Titanic´ und alles gestoßen hatte. Nun hat er den überschüssigen Roman also abgekriegt. Mal gepannt, ob er ihn lesen kann.
Das alles und noch viel mehr rioreiserte und rauschte mir durchs Hirn, als ich sonntags im Nieselregen durch die Hasenheide lief.
P.S. Zuhause schaute ich nach im Roman und stellt fest, daß das zitierte Kapitel – anders als ich jahrelang dachte – nicht
„Kummer schwimmt oben“
sondern
„Kummer obenauf“
heißt.
Die von mir erinnerte Version finde ich eigentlich schöner.
So sah es nämlich aus in der Pause der Lesung, die ich vor zehn Tagen gemeinsam mit Albrecht Selge bestreiten durfte. Selge war erstens keineswegs so häßlich, wie er sich angekündigt hatte (siehe unten). Zweitens las er in sehr angenehmer, teils sogar berührender Weise aus seinem richtig guten Roman „Fliegen“ vor. Drittens wußten Frank Paul Schubert und Assaf Fleischmann, wie Thelonious Monk auf Saxophon und Klavier gespielt gehört. Viertens ging das Publikum schön mit mit deutlich vernehmbaren Seufzern des Wohlgefühls und Juchhu-Rufen. Und schließlich danke ich Oliver Nötzel, daß er auf den Auslöser drückte, um dieses kleine Stilleben mit Brillen, Büchern, Glas, Kuli und AMORE festzuhalten. Denn:
„Wenn jemand fragt, wofür du stehst,
sag für Amore, Amore.“
(Wanda, „Bologna“)