Sie kam in einem Zelt zur Welt.

Natürlich schreibt nicht das Leben die schönsten Geschichten, sondern immer noch die Literatur. Das Leben ist aber manchmal auch nicht schlecht. Dachte ich, als ich vor ein paar Tagen eine dpa-Meldung las. Darin ging es um das jüngste Erdbeben in Mittelitalien und das Schicksal einer 101jährigen Frau. Das man – etwas anders sortiert – ungefähr so erzählen könnte:

Anna Rocco di Paolo kam in einem Zelt zur Welt. Das war im Jahr 1915. Italien befand sich im Ersten Weltkrieg. Ein schweres Erdbeben erschütterte die Mitte des Landes und kostete 30 000 Menschen das Leben. Viele Häuser wurden zerstört oder waren zumindest unbewohnbar. Auch Annas hochschwangere Mutter und ihr Vater mußten in eine Notunterkunft ausweichen. Hier wurde Anna geboren.

Irgendwann konnten die Eltern mit dem Baby wieder in ihr Heimatdorf Pieve Torina in den Marken zurückkehren. Dort lebte Anna die folgenden 101 Jahre. Mädchen, Frau, alte Frau. Ihr Dorf verließ sie in dieser Zeit kein einziges Mal. In den letzten Jahren auch das Haus nicht mehr. Bis jetzt die Erde wieder bebte und die Erschütterung die Greisin fast aus dem Bett fallen ließ.

Einsatzkräfte retteten Signora Rocco die Paolo aus ihrem Haus und brachten sie in eine 80 Kilometer entfernte Notunterkunft an die Adriaküste. Die alte Frau sah erstmals in ihrem Leben das Meer.

Ihre drängendste Frage aber war: „Wann kehren wir nach Hause zurück?“

Defekt (7)

Freund Claudio weist mich darauf hin, daß es Dinge gibt, die „zwar nicht kaputt, aber dafür auch nicht defekt“ sind, und belegt diese feine Beobachtung mit folgendem Dokument:

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Der Zettel liest sich fast wie Lyrik. Und auch das verpackte Urinal gemahnt an Kunst.  Wer sich, wie ich,  länger in dieses Ensemble versenkt, taucht wieder auf mit einer Handvoll Fragen:

Klingt das gewählt wirken sollende „Urinal“ nicht eigentlich  viel ekliger als „Pinkelbecken“?

Was wollen uns die drei Ausrufezeichen sagen? Vielleicht:  „Nimm diesen Hinweis ernst, du kleiner Pisser! Ich behaupte das nicht einfach nur so!! Es handelt sich um die wirkliche und tatsächliche Wahrheit!!!“

Warum hat der Autor so wenig Zutrauen in die Macht der Worte und der Satzzeichen, daß er das Urinal sicherheitshalber auch noch mit Folie abkleben zu müssen glaubt?

Woran liegt es, daß die Ankündigung „Mangel wird bearbeitet“ auf mich keine beruhigende, sondern eher eine furchteinflößende Wirkung hat?

Wieso muß ich mich an einem kostbaren freien Tag mit so einer Scheiße befassen müssen?

Schluß jetzt und auf ins „Knofi“ auf eine schmackhafte Linsensuppe.

Fünf Buchtitel, die mir gefallen

„A Cure for Gravity“

Das ist der Titel der Autobiographie von Joe Jackson. Auf Deutsch heißt sie „Ein Mittel gegen die Schwerkraft“. Auch nicht schlecht, aber weniger lakonisch.  Was in beiden Varianten nicht gesagt wird, sondern kunstvoll ausgespart: Es geht um Musik. Die die Schwerkraft aufheben, besiegen, heilen kann. Schöne Vorstellung.

„Vorsätzlich Herumlungern“

Im Original: „Loitering with Intent“. So heißt ein schmaler Roman der von mir sehr gemochten  Autorin Muriel Spark. „Herumlungern“ allein ist schon gut, aber in der Kombination mit „vorsätzlich“ noch besser und komischer.

„Würdest du bitte endlich still sein, bitte“

Toller Titel, wörtlich übersetzt, tolles Buch von Raymond Carver.  Das doppelte „bitte“ steigert die Genervtheit exponentiell.

„100 Namen die uns zwei gefallen“

Eckhard Henscheid und der Hersbrucker Drucker Michl Gölling haben kuriose, absurde, reizende Namen aus Literatur und  Wirklichkeit gesammelt und schön gesetzt: „Deppenschmidt, Buddy“, „Baudendiestel-Bradenbrink, Birgit“ und 98 weitere Juwelen. So ein Büchlein für eine winzige Gemeinde einfach mal zu machen und es auch genau so zu nennen – das ist wahre künstlerische Freiheit.

„Teufelsbrück“

Großer Roman von Brigitte Kronauer, dessen Lektüre meine Weltwahrnehmung über Wochen prägte und dessen Titel aus naheliegenden Gründen in Sankt Neffs Ohren besonders kirchturmglockenklangvoll klingt.

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Vor dem lieben Gott

Die ganz Großen müssen nichts tun und es ist eine Freude, ihnen beim Nichtstun zuzuschauen.

Vor einigen Jahren trat Gerhard Polt in Berlin auf. Anderntags erzählte der Kritiker im Radio, welches Vergnügen es ihm bereitet habe, Polt schon vor dem Auftritt in der Kantine des Berliner Ensemble einfach so dasitzen zu sehen. Und ihn dann auf der Bühne zu beobachten, still auf dem Stuhl, während die Biermosl Blosn spielte. Ich wußte genau, was der Kritiker meinte.

An dieses Phänomen mußte ich denken, als ich auf Youtube ein Video entdeckte. Es zeigt den Musiker Jamie Cullum bei einer Gala während der Filmfestspiele in Cannes. Er spielt und singt zu Ehren des Jury-Präsidenten Robert De Niro ein Medley aus New York-Liedern.  Und De Niro dabei zuzusehn, wie er hört und schaut, ist sehr komisch und ein großes Glück. So ungefähr muß es sein, dem lieben Gott vorzuspielen:

Jamie Cullum singt für Robert De Niro.

Zwischen Breytenbach und Büchner

Regal Andreas Göbel

Der Pianist Andreas Göbel, der sich auf dieser Seite schon einen Namen gemacht hat durch die Vertonung eines meiner Gedichte (siehe unter „Sänger gesucht“ und „Sänger gefunden“), ist nicht nur ein durch und durch musikalischer, sondern auch sehr belesener  Mann. Hinzu kommt ein nahezu enzyklopädisches Gedächtnis, will sagen: Er behält die  Dinge, die er gelesen hat, und weiß sie auch nach Jahren noch abzurufen. In Gesprächen mit ihm beschleicht mich deshalb gelegentlich das Gefühl, daß er meine Texte besser kennt als ich. Ich fühle mich geehrt, einen Platz in seiner Bibliothek gefunden zu haben.

Kurzes Gedicht mit sehr langem Titel, das sich an Fernsehmoderatoren richtet, die mir Freitag abends ein hinreissendes Herbstwochenende wünschen zu müssen glauben, wo es doch auch ein gutes oder schönes tun würde, an Musiker, die allen Ernstes behaupten, sie hätten sich mit ihrer aktuellen Platte neu erfunden, nur weil sie ein klein bisschen anders klingt als die davor, an Literaturkritiker, die Bücher als rasend klug komponiert bezeichnen, hauptsächlich um damit zu vermitteln, dass sie selbst zu den wenigen gehören, die rasend klug genug sind, um rasend klug komponierte Bücher als solche überhaupt erkennen zu können, an Prominente wie Nina Hagen, die sich nicht entblöden, öffentlich auszuposaunen, dass sie täglich beten und es wunderschön finden, oder Til Schweiger, der zwar an den Himmel glaubt, aber derzeit nicht an Gott, mit Betonung natürlich auf derzeit – soweit der Titel und nun das Gedicht:

Hört auf, mich zu stören!

Ich will das nicht hören!

 

Ihr vorlauten Wesen!

Ich wills auch nicht lesen!

 

So  shut up and listen:

Will nichts davon wissen!

Die Limonade zum Film zum Buch von Wolfgang Herrndorf

Ein „Erfolgsschriftsteller“ wurde Wolfgang Herrndorf erst kurz vor Schluß, also zu spät.

Davor war er Jahre, Jahrzehnte lang ein armer Maler und armer Poet, der in einer Einzimmerwohnung lebte und aus Kostengründen in der Mensa essen ging.

Als Autor mit sehr kleinen Auflagen erzählte er mal,  er lege seine Bücher in Buchhandlungen gelegentlich oben auf den hochhaushohen Daniel Kehlmann-Stapel, damit sie endlich  wahrgenommen und gekauft würden.

Schon schwer krank hat Herrndorf dann einigermaßen verwundert, amüsiert, vielleicht auch ein bißchen verbittert mitansehen dürfen, wie er zum Bestseller-Autor und Millionär wurde.  Die tödliche Krankheit gehörte sicher auch zur Erfolgsgeschichte von „Tschick“, die Herrndorf dann aber eben nur noch zum Teil erlebt hat.

„Tschick“ als Schullektüre,  auf Theaterbühnen und eben jetzt erfolgs-folgerichtig auch im Kino – Wolfgang Herrndorf ist inzwischen vermutlich populärer und verkaufsträchtiger als Daniel Kehlmann. Eine „Vermessung der Welt“-Limonade jedenfalls ist mir noch nicht untergekommen:

Satire als Notwehr

 „Satire ist Notwehr.“

Wenn ich mich recht erinnere, stammt dieser sehr wahre Satz ursprünglich von der Autorin Simone Borowiak, die inzwischen ein Autor ist und Simon Borowiak heißt.

Eine archaische Form der satirischen Notwehr erfüllt mich immer wieder mit Freude, so auch jetzt  im Berliner Wahlkampf: die Entstellung von Personen auf Wahlplakaten mit einfachsten Mitteln. Ein dicker schwarzer Filzstift reicht, um sich gegen die penetrante Präsenz von Politiker-Gesichtern zu wehren, wie dieses Beispiel aus Kreuzberg belegt:

Wahlplakat 2

Ein paar schwarze Zähne – schon kann und muß die Frau keiner mehr ernst nehmen. Die Aufdringlichkeit ihrer Gegenwart löst sich auf in wohlgefälliges Lachen oder zumindest Lächeln auf Seiten des Betrachters.  Eine harmlose, aber wirkungsvolle Form der Notwehr. Funktioniert garantiert bei Politikern aller Parteien.

Mein All