Ruhestörungen in Berlin und Little Britain

Auch nach all den Jahren habe ich mich noch nicht daran gewöhnen können, daß um mich herum ständig telefoniert wird. Neulich im Café war es mir unmöglich zu lesen, weil der Typ am Nebentisch mit schmerzfreier Ausdauer unausgesetzt Geschäftliches in sein Mobiltelefon hineinramenterte.  Am liebsten hätte ich jemanden angerufen, um ihm mitzuteilen, wie sehr mich das ankotzt.

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Christian Zaschke war vor mehr als 20 Jahren ebenso wie ich Lokal-Reporter des Bonner General-Anzeigers in Siegburg. Inzwischen hat er es zum Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung in London gebracht. Als solcher schrieb er zwei Jahre lang für die Wochenendbeilage eine Kolumne namens „Little Britain“. Die besten Texte sind jetzt in einem Buch versammelt, in dem auch ich die Ehre habe, mit einem kleinen Gast-Auftritt (S. 79f.) vertreten zu sein. Es heißt „Little Britain“ und ist im Goldmann-Verlag erschienen.  Sehr lachen mußte ich in der Badewanne über folgende Episode, die ich mit freundlicher Genehmigung des verdammt gut aussehenden Autors  jetzt und hier veröffentlichen darf:

48 Zähne

Ich blickte auf die Landschaft, die in erhabener Schönheit vorbeizog. „Im Zug“, brüllte die Amerikanerin, „ich bin im Zug.“ Sie meinte nicht mich, denn ich wusste bereits, dass sie sich im Zug befand. Ich saß ihr Gegenüber. Die Amerikanerin war in Newcastle zugestiegen, und ich hatte gleich ein schlechtes Gefühl gehabt. Als Bahnfahrer entwickelt man mit der Zeit ein fast unfehlbares Gespür für Leute, die einem auf der weiteren Reise schwer auf die Nerven fallen werden. Ich weiß nicht, ob es der ins Tumbe changierende, selbstgefällige Gesichtsausdruck ist, der Blackberry oder das miese Karma. Jedenfalls sind sie zu erkennen.

Ich hatte mich in den so genannten „Ruhewagen“ gesetzt. In diesem sollen Handys nach Möglichkeit nicht benutzt werden. Ruhewagen zählen neben gebranntem Wasser und dem Buchdruck zu den großen Erfindungen der Menschheit. „Nein“, schrie die Amerikanerin in ihr Telefon, „es ist nichts Wichtiges. Ich wollte nur mal hören.“

Sie sprach mit Sarah. Desweiteren wusste ich bereits, dass sie selbst Sheryl hieß und bis London durchfuhr. Das hatte ich den vorangegangenen Anrufen bei Sharon und Rachel entnommen. Beim Gespräch mit Sarah war leider die Verbindung nicht so gut. Ich erhielt davon Kenntnis, als Sheryl in ihr Telefon grölte: „Sehr schlechte Verbindung“, und dann, nach zwei Sekunden, noch etwas lauter: „Ich sagte, dass die Verbindung sehr schlecht ist.“ Ich schenkte Sheryl mein schönstes Lächeln und zeigte auf das Symbol mit dem durchgestrichenen Handy. Sheryl lächelte zurück (wie viele Amerikaner verfügte sie über achtundvierzig sehr große, sehr weiße Zähne). Dann wählte sie Paulas Nummer. Ich wusste, dass es sich um Paulas Nummer handelte, weil Sheryl nach wenigen Sekunden anhob: „Paula! Hier ist Sheryl! Störe ich gerade?“ In einem seltenen Anfall von Schlagfertigkeit sagte ich: „Ja, das tun Sie.“ Sheryl röhrte: „Nein, es ist nichts Wichtiges, ich wollte nur mal hören. Ich bin im Zug.“ Ich wusste, was sie als Nächstes sagen würde: „Im ZUHUUG. ICH BIN IM ZUG.“

Ich schaute mich um und blickte in rund zwanzig Gesichter, in denen sich Hass, Empörung und vereinzelt auch Mitleid widerspiegelten. Mir war klar, dass niemand etwas sagen würde, denn das ist hier nicht üblich. Sheryl war dann beim neunten oder zehnten Anruf, ich hatte mich an das Gebrüll fast gewöhnt, als sie plötzlich einen spitzen Aufschrei tat: „Stephens Party?“ Fünf Sekunden vergingen, dann jaulte Sheryl: „Warum war ich da nicht eingeladen?“ Es war ein sehr englischer Moment, als fast das gesamte Abteil kurz wissend auflachte und dann umgehend den Blick wieder mit unbewegter Miene auf die vorbeiziehende Landschaft richtete.

Haenchen und Helmchen und Mörchen

Wie wenig es braucht, um mich lachen zu machen: Kürzlich nahm die Morgen-Moderatorin in meinem Radio kurz hintereinander zwei Namen in den Mund, die gesprochen natürlich noch lustiger sind, als sie sich lesen: Zunächst dirigierte:

Hartmut Haenchen.

Wenig später spielte Klavier:

Martin Helmchen.

Fehlte als Dritter im diminutiven Bunde nur noch der weiter unten schon gewürdigte:

Raoul Mörchen.

Der leider von Berlin nach Köln abgewanderte Klassik-Moderator Daniel Finkernagel hätte sich in allen drei Fällen wohlmöglich zu der Bemerkung hinreißen lassen: „Ein Name, den ich mir nicht auf den Oberarm tätowieren lassen würde.“

Die Steigerung des Superlativs

Von den Jungen lernen, heißt steigern lernen. Zwei zwölfjährige Jungs namens Franz und Nikolai erklärten mir gestern, daß nicht länger der Superlativ, sondern heute vielmehr der „Ultralativ“ das Maß aller Dinge sei:

Positiv: schnell

Komparativ: schneller

Superlativ: am schnellsten

Ultralativ: scheiße-schnell

Die Jugend von heute ist auch nicht mehr so doof, wie sie mal war.

In der Wortspielhölle

Freund Andreas schreibt mir per SMS:

„Mitarbeiterin von Fahrradhersteller berichtete, dass sie nebenher noch Spezialumbauten für kleinstwüchsige Menschen macht.  Schlug vor die Firma

Ergnomie

zu nennen.“

Wenn schon Wortspielhölle, dann aber bitte auch

Zwergonomie

in die engere Wahl nehmen. Und für die Winzigsten unter den Kleinstwüchsigen eine Kombination aus beiden:

Zwergnomie.

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Wer sich in die Wortspielhölle begibt, der hat – siehe oben – entsprechende Qualen zu gewärtigen. Eines der wenigen mir bekannten gelungenen, nicht peinvollen Wortspiele ersann einst die Firma Swatch. Nachdem sie Mitteleuropa mit bis dato nicht dagewesenen Plastikuhren überschwemmt hatte, machte sie eine Rolle rückwärts,  erweiterte ihre Produktpalette um sage und schreibe Uhren aus Eisen und nannte diese Linie konsequenterweise

Irony.

Bienchen. Blümchen. Sex.

Aus Nordrhein-Westfalen erreicht mich dieses spektakuläre Dokument:

Bienen. Blumen. Sex.

Und erinnert mich an einen Witz, den ich in dem Roman „Alles, was ist“ von James Salter gelesen habe:

»Kennst du den von dem ungarischen Herzog?«, sagte Eddins. »Also, da gab es diesen Herzog, und eines Tages kommt seine Frau und sagt, dass ihr Sohn jetzt erwachsen würde, und ob es nicht Zeit sei, ihm von den Bienchen und den Blümchen zu erzählen. Gut, sagte der Herzog, und nimmt den Jungen mit auf einen Spaziergang. Sie gehen also zum Fluss und stehen auf der Brücke und sehen den Bauernmädchen zu, die am Fluss unten Wäsche waschen. Der Herzog sagt, deine Mutter will, dass ich dir von den Bienchen und den Blümchen erzähle. Ja, Vater, sagt der Sohn. Also, siehst du die Mädchen da unten? Ja, Vater. Und erinnerst du dich, was wir vor ein paar Tagen mit ihnen gemacht haben? Ja, Vater. Also, das ist, was die Bienchen und die Blümchen tun.«

Dreimal Marathon

Heute wurde ich gefragt, ob ich am Sonntag am Berlin-Marathon teilnehmen werde. Auf diese Frage gibt es eigentlich nur eine angemessene Antwort. Katz und Goldt haben sie vor Jahren in einem Cartoon formuliert:

„Mal gucken.“

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Meine Nichte war vielleicht fünf Jahre alt, als ich sie in Kreuzberg mit an die Marathon-Strecke nahm. Wir waren sehr früh und rechtzeitig dort und sahen deshalb noch die komplette Spitzengruppe an uns vorbeisprinten – ausnahmslos Afrikaner.  Was meine Nichte zu dieser im Grunde sehr naheliegenden Frage veranlaßte:

„Kriegen die Neger eigentlich Vorsprung?“

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Sehr berührend und fantasiebeflügelnd fand ich, was der aus Äthiopien stammende frühere Marathon-Läufer Haile Gebrselassie einmal dem ´Zeit-Magazin´ erzählte:

„Seit meinem ersten Schultag war ich zur Schule gelaufen. Die Schule lag zehn Kilometer von unserem Dorf entfernt in der nächsten Stadt. Also lief ich jeden Morgen um sechs Uhr los. Zehn Kilometer hin und zehn Kilometer wieder zurück.  Mein Weg führte durch eine wunderschöne Landschaft, ich lief durch einen Wald, durchquerte einen Fluss und sah viele Tiere, vor allem Vögel und Gazellen. Im Winter, wenn es morgens noch dunkel war, mussten wir uns zu mehreren Kindern zusammentun, denn im Dunkeln trafen wir häufig auf Hyänen. In der linken Hand hielt ich die Bücher. Das sieht man noch heute an meinem Laufstil. Mit der linken Hand hole ich weniger weit aus als mit der rechten.“

Beim Künstler daheim

Was man auch nicht alle Tage zu sehen bekommt: Ein Künstler – der weiter unten schon lobpreisend erwähnte Thomas Kapielski –  führt uns durch seine Wohnung und erläutert wortreich vor allem die dort hängenden, selbsterzeugten Kunstwerke:

Diese Art deklamatorischer Wohnungsführung sei ausdrücklich  zur Nachahmung empfohlen.

Try to be Mensch

Das hier sagte Helge Schneider einmal bei einem Auftritt in Berlin zu seinem Publikum:

„Ich habe auch mehrfach versucht zu arbeiten. Ich wollte sein wie ihr. Das ist ziemlich schwer.“

Lustig mischt sich hier auf engstem Raum die zur Schau gestellte Arroganz des Künstlers, der wohlfeile Versuch einer Solidaritäts-Adresse ans einfache, zahlende  Volk da unten mit einer rührend unbeholfenen und umso genialeren  Zusammenfassung der Conditio humana – oder so ähnlich.

Im neuen, demnächst erscheinenden Gedicht-Band gibt es ein Textlein mit einem ähnlichen Motiv. Es beruht auf einer wahren Begebenheit, ist aber nicht autobiographisch:

 

Ein junger Mann macht sich Gedanken über seine Wiedergeburt

 

Bitte nicht nochmal

als Mensch.

Ist mir zu schwer.

Wenn schon: dann Adler.

Besser noch: Wasser.

Seltene Momente

Das An- und Abschwellen der Kleingeld-Menge in einem Portemonnaie und die sehr seltenen Momente, in denen sich kein einziger Cent mehr im Münzfach befindet, allenfalls noch der Chip für die Einkaufswagen: Wie oft kommen sie vor?

In meinem Fall vielleicht ein- oder zweimal im Jahr. Und das, obwohl ich mich stets bemühe, die Anzahl an Münzen in meinem Portemonnaie gering zu halten.

Wie wohl mag es anderen Menschen ergehen? Kommen sie häufiger als ich in den Genuß einer von Münzen völlig unbeschwerten Börse? Oder empfinden sie diesen Zustand vielleicht gar nicht als erstrebenswert? Unterscheiden sich Frauen und Männer in ihrem Kleingeld-Verhalten? Wer weiß eine Antwort?

Unten und oben. Drinnen und draussen. Tags und nachts.

Tage des Übergangs und der Übergangsjacken:

In der U-Bahn ist noch Sommer,

oben, draußen fast schon Herbst.

Eine leis wehmütige Erinnerung an die vielen Sommerwochen, die uns vergessen ließen, daß  es überhaupt Jacken gibt.  Freund Oliver berichtet von beglückenden Aufenthalten auf dem Land:

„voll geilo mit see, nackt baden und paddeln – ich werde wieder das angeln anfangen – allet an fisch vorhanden, sogar eine spezielle barschart, die nur in prickelnden, klaren gewässern schwimmt. grill an, fisch essen und mücken summen… wunderbar. rohrdommeln gibts auch, die trinken light und blasen dann in die flasche – habe sie  dir anjehängt – als mp 3 – volle kanne rohrdommeln nachts um 03.45.“

Und ich habe sie Euch angehängt, die Vollrohrdommeln.

Mein All