Ein Siebenjähriger verkündet, er werde fortan Tagebuch führen. Der erste Eintrag lautet:
24.11.12
Am Donerstag haben mich meine Freunde ausversehn gegen den metalzaun gezogen.
Seither keine Einträge mehr.
Ein Siebenjähriger verkündet, er werde fortan Tagebuch führen. Der erste Eintrag lautet:
24.11.12
Am Donerstag haben mich meine Freunde ausversehn gegen den metalzaun gezogen.
Seither keine Einträge mehr.
Gleich morgen schon hör ich mit Aufschieben auf.
Und dann fang ich ganz bald mit Anfangen an.
Kurz vor Weihnachten schenke ich den Lesern, aber auch den Leserinnen dieses Blogs einen wohlmeinenden Rat, der sich aus leidvoll errungener Lebenserfahrung speist:
Vorsicht bei Geschenken auf den letzten Drücker!
Denn: Vor vielen Jahren, ich war noch ein sehr junger Mann, enthielt das Dezember-Heft der ´Titanic´ einen Last-Minute-Geschenk-Tipp zum Ausschneiden:
„Gutschein über einen Geschlechtsverkehr“.
Es handelte sich um ein Fomular, in das der Schenker nur noch den Namen der Beschenkten eintragen mußte. Ich schnitt den Gutschein also aus, erstellte ein gutes Dutzend Kopien, die ich dann eines alkoholisierten Abends an alle erdenklichen mir bekannten Frauen verschickte. – Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen verzieh mir diesen pubertären Joke gnädig stillschweigend.
Einige Jahre später aber saß ich mit einer Freundin in einem thailändischen Restaurant in Berlin. Wir hatten uns länger nicht gesehen, es gab viel zu erzählen. Irgendwann im Laufe des Abends hielt sie inne, schaute mir schnurstracks in die Augen und sagte so freundlich wie bestimmt:
„Du bist mir noch ein Nümmerchen schuldig.“
Es mag Situationen geben, in denen einen eine solche Ansage erfreut. Mich traf sie auf dem völlig falschen, nämlich zunächst verdatterten, dann doch leicht beschämten Fuß. Ende der überstrapazierten Metapher.
Inzwischen denke ich wieder ganz gerne an diese peinvolle Begegnung mit der eigenen Präpotenz zurück. Ich will auch niemand kategorisch von vergleichbar leichtsinnigen Unternehmungen abhalten. Man sollte nur wissen, was man tut. Bzw. eben nicht, denn Leichtsinn ist ein hohes Gut.
Kurzum: Ich wollte es nur mal erzählt haben. Frohe Weihnachten!
Für das Leben auf der Erdoberfläche empfiehlt sich als segensreicher Imperativ nicht nur „Dabeisein ist alles!“, sondern auch „Augen auf und durch!“
Wer nämlich immerzu mit verrammelten Sinnen durch den Alltag hektickt, dem entgehen möglicherweise Schönheiten wie diese hier, die Frau Astrid auf einem Müllcontainer entdeckte:
Während es sich oben vielleicht um einen Löwen handelt, spielt das Container-Ornament unten eher ins floral Reliefhafte:
„All this useless beauty!“, möchte man da mit Elvis Costello ausrufen.
Das Wort hat Freund Andreas für ein lustiges Episödchen aus dem Supermarkt:
Anfang Dezember wird wieder der „Bad Sex in Fction Award“ vergeben. Ausgelobt hat ihn vor mehr als 20 Jahren die britische Zeitschrift ´Literary Review´ für die schlechteste Beschreibung einer Sex-Szene. Das sehr vernünftige Anliegen dieses Preises ist dem früheren Chefredakteur Auberon Waugh zufolge,
„die Aufmerksamkeit auf die kruden, geschmacklosen, oft nachlässig geschriebenen und redundanten sexuellen Passagen in ansonsten achtbaren zeitgenössischen Romanen zu lenken, um solche künftig zu verhindern“.
Gewonnen haben den „Bad Sex in Fiction Award“ seit 1993 überwiegend Männer, Tom Wolfe zum Beispiel, Norman Mailer – lustigerweise posthum – oder Jonathan Littell, aber auch einige Schriftstellerinnen. In diesem Jahr ist unter anderem der australische Autor Richard Flanagan nominiert. Für seinen Roman „The Narrow Road to the Deep North“ wurde er gerade mit dem renommierten Man Booker Preis prämiert. Die inkriminierte Passage lautet:
„He kissed the slight, rose-coloured trench that remained from her knicker elastic, running around her belly like the equator line circling the world. As they lost themselves in the circumnavigation of each other, there came from nearby shrill shrieks that ended in a deeper howl.“
Ebenfalls auf der Liste der für den „Bad Sex in Fiction Award“ Nominierten ist Haruki Murakami. Qualifiziert hat er sich mit seinem jüngsten Roman „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“, in dem er meinte behaupten zu müssen, das Schamhaar einer jungen Frau, mit der der Held Sex hat, sei
„so feucht wie der Regenwald“.
Vorbildlich diskret dagegen der hier schon zwiefach gerühmte Dichter Thomas Kapielski. In seinem Roman „Je dickens, destojewski!“ umgeht er, bzw. der als Erzähler fungierende sogenannte „Pohle“, so konsequent wie elegant die Peinlichkeit unbeholfener Darstellung von Sexualität. Bevor es konkret und eben im Zweifelsfall peinlich wird, verpflichtet er sich selbst zu Verschwiegenheit:
„Stopp! Da wir (der Pohle usw.) zur Einsicht in die Sache genug gesagt zu haben meinen, sei der Ausleuchtung weiterer delikater Vorhaben (und vor allem Vollstreckungen) Einhalt erteilt!
Also: Licht aus und kein Wort weiter! (…)
Der Leser kann es sich ausmalen –
Wir aber schweigen fürderhin.“
Ich nun aber notiere das alles mit leichten bis mittelschweren Schuldgefühlen, denn auch mein kürzlich veröffentlichter Gedichtband „Ein Leichtes“ enthält ja einige, wenn auch vergleichsweise wenige, leicht bis mittelschwer versaute Texte. Ob sie in Frage kommen für einen noch ins Leben zu rufenden „Bad Sex in Poetry Award“? Entscheidet einfach selbst.
Bei seinem jüngsten und zumindest vorläufig letztem Gastspiel in Berlin kokettierte Helge Schneider immer wieder mit dem unmittelbar bevorstehenden Ruhestand. Kurz vor Ende des in seiner Qualität durchaus schwankenden Konzertes richtete er aber dann einen Satz an das Publikum, für den allein der ganze Abend sich schon gelohnt hätte:
„Ohne euch wäre ich genauso arm geblieben – (Pause) – wie ihr.“
Ich hatte damit gerechnet, daß der Satz nach der kleinen Zäsur enden würde mit „wie vorher“. In der tatsächlichen Form aber handelt es sich um die letztgültige Zusammenfassung des Showbusiness schlechthin, mit der eigentlich jeder wahrhaftige Unterhaltungskünstler ab sofort seine Auftritte beenden sollte:
„Ohne euch wäre ich genauso arm geblieben wie ihr.“
Auf Anraten von Schwester Sabine schaute ich mir den gleich folgenden Ausschnitt aus einer Fernsehshow zum 80. Geburtstag von Udo Jürgens an. Jamie Cullum singt ein Lied, das Jürgens komponiert hat und das Sammy Davis jr. jahrelang zum Abschluss seiner Konzerte sang:
Cullums Auftritt ist ein schöner Live-Moment. Wie Schuppen von den Ohren aber fiel mir der Unterschied zwischen Talent und Genie, als ich beim Weitersurfen dann dieses Dokument hier aufrief:
Stimme, Timing, Gestik – all das fegte mich geradezu vom Stuhl und ließ mich kopfschüttelnd zurück angesichts dieser anbetungswürdigen Beseeltheit und Lässigkeit – Ihr wißt gewiß, was ich meine.
Ähnliches gilt auch für diesen Auftritt hier, der den Vorzug hat, das sich beim Betrachten Heiterkeit angesichts des spektakulären Outfits und Ergriffenheit zu Lachrührung mischen:
Um den Ausflug in die vergleichende Musikwissenschaft zu runden, schließlich noch eine schön rührselige Performance Michael Jacksons zum 60. Geburtstag von Sammy Davis jr. :
Wer beruflich oder persönlich häufiger mit Schauspielerinnen, Schriftstellern oder Sängern zu tun hat, der weiß, was ich meine, wenn ich sage:
„Liebst du die Kunst, dann meide den Künstler.“
Weil es doch eben sehr ernüchternd sein kann, den Menschen nahe zu kommen, die als Künstler Einzigartiges geschaffen haben, und von denen man in naiver Verehrung annahm, hinter dem großen Werk müsse sich auch ein großartiger Mensch verbergen. Nicht selten, wenn nicht häufig oder sogar meistens: mitnichten.
Mit anderen Worten, nämlich denen Arno Schmidts:
„Der Künstler hat nur die Wahl, ob er als Mensch existieren will oder als Werk; im zweiten Fall besieht man sich den defekten Rest besser nicht.“
*
Wer sich jetzt fragt, von wem wohl eigentlich das einigermaßen geniale Zitat vom zu meidenden Künstler stammt – so ging es mir auch. Ein Kollege von mir benutzt es gern, wenn die Sprache auf egozentrischste Schriftsteller und zickigste Schauspielerinnen kommt. In der Annahme, daß ein einschlägiger Aphoristiker wie Oscar Wilde dahinterstecke, befragte ich das weltweite Netz. Und siehe da: nichts. Nicht zu finden, nichts zu machen.
Ich stellte den erwähnten Kollegen zur Rede, der den Urheber des Zitats aber auch nicht kannte, sondern nur wußte: „Das habe ich vom Kollegen Alexander Lück gehört.“ Also stellte ich auch Alexander Lück zur Rede:
„Von wem stammt denn nun der sehr wahre Satz ´Liebst du die Kunst, dann meide den Künstler´?“
„Der ist von mir.“
Ich schaute ungläubig und Lück ergänzte:
„Den habe ich mir zusammen mit dem Kollegen Daniel Finkernagel ausgedacht, als wir gerade versuchten, mit einer extrem kapriziösen Sängerin zusammenzuarbeiten.“
Ich blieb baff zurück und voller Bewunderung für die aphoristischen Fähigkeiten des Duos Finkernagel/Lück – und auch der Freude darüber, daß mal etwas im Netz NICHT zu finden ist. Eine beglückende Leerstelle. Die mit diesem Eintrag hier zu füllen ich mir aber nicht verkneifen kann.
Auch nach all den Jahren habe ich mich noch nicht daran gewöhnen können, daß um mich herum ständig telefoniert wird. Neulich im Café war es mir unmöglich zu lesen, weil der Typ am Nebentisch mit schmerzfreier Ausdauer unausgesetzt Geschäftliches in sein Mobiltelefon hineinramenterte. Am liebsten hätte ich jemanden angerufen, um ihm mitzuteilen, wie sehr mich das ankotzt.
*
Christian Zaschke war vor mehr als 20 Jahren ebenso wie ich Lokal-Reporter des Bonner General-Anzeigers in Siegburg. Inzwischen hat er es zum Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung in London gebracht. Als solcher schrieb er zwei Jahre lang für die Wochenendbeilage eine Kolumne namens „Little Britain“. Die besten Texte sind jetzt in einem Buch versammelt, in dem auch ich die Ehre habe, mit einem kleinen Gast-Auftritt (S. 79f.) vertreten zu sein. Es heißt „Little Britain“ und ist im Goldmann-Verlag erschienen. Sehr lachen mußte ich in der Badewanne über folgende Episode, die ich mit freundlicher Genehmigung des verdammt gut aussehenden Autors jetzt und hier veröffentlichen darf:
48 Zähne
Ich blickte auf die Landschaft, die in erhabener Schönheit vorbeizog. „Im Zug“, brüllte die Amerikanerin, „ich bin im Zug.“ Sie meinte nicht mich, denn ich wusste bereits, dass sie sich im Zug befand. Ich saß ihr Gegenüber. Die Amerikanerin war in Newcastle zugestiegen, und ich hatte gleich ein schlechtes Gefühl gehabt. Als Bahnfahrer entwickelt man mit der Zeit ein fast unfehlbares Gespür für Leute, die einem auf der weiteren Reise schwer auf die Nerven fallen werden. Ich weiß nicht, ob es der ins Tumbe changierende, selbstgefällige Gesichtsausdruck ist, der Blackberry oder das miese Karma. Jedenfalls sind sie zu erkennen.
Ich hatte mich in den so genannten „Ruhewagen“ gesetzt. In diesem sollen Handys nach Möglichkeit nicht benutzt werden. Ruhewagen zählen neben gebranntem Wasser und dem Buchdruck zu den großen Erfindungen der Menschheit. „Nein“, schrie die Amerikanerin in ihr Telefon, „es ist nichts Wichtiges. Ich wollte nur mal hören.“
Sie sprach mit Sarah. Desweiteren wusste ich bereits, dass sie selbst Sheryl hieß und bis London durchfuhr. Das hatte ich den vorangegangenen Anrufen bei Sharon und Rachel entnommen. Beim Gespräch mit Sarah war leider die Verbindung nicht so gut. Ich erhielt davon Kenntnis, als Sheryl in ihr Telefon grölte: „Sehr schlechte Verbindung“, und dann, nach zwei Sekunden, noch etwas lauter: „Ich sagte, dass die Verbindung sehr schlecht ist.“ Ich schenkte Sheryl mein schönstes Lächeln und zeigte auf das Symbol mit dem durchgestrichenen Handy. Sheryl lächelte zurück (wie viele Amerikaner verfügte sie über achtundvierzig sehr große, sehr weiße Zähne). Dann wählte sie Paulas Nummer. Ich wusste, dass es sich um Paulas Nummer handelte, weil Sheryl nach wenigen Sekunden anhob: „Paula! Hier ist Sheryl! Störe ich gerade?“ In einem seltenen Anfall von Schlagfertigkeit sagte ich: „Ja, das tun Sie.“ Sheryl röhrte: „Nein, es ist nichts Wichtiges, ich wollte nur mal hören. Ich bin im Zug.“ Ich wusste, was sie als Nächstes sagen würde: „Im ZUHUUG. ICH BIN IM ZUG.“
Ich schaute mich um und blickte in rund zwanzig Gesichter, in denen sich Hass, Empörung und vereinzelt auch Mitleid widerspiegelten. Mir war klar, dass niemand etwas sagen würde, denn das ist hier nicht üblich. Sheryl war dann beim neunten oder zehnten Anruf, ich hatte mich an das Gebrüll fast gewöhnt, als sie plötzlich einen spitzen Aufschrei tat: „Stephens Party?“ Fünf Sekunden vergingen, dann jaulte Sheryl: „Warum war ich da nicht eingeladen?“ Es war ein sehr englischer Moment, als fast das gesamte Abteil kurz wissend auflachte und dann umgehend den Blick wieder mit unbewegter Miene auf die vorbeiziehende Landschaft richtete.